Code: unbekannt – Kritik

VoD: Als „unvollständige Erzählung von verschiedenen Reisen“ untertitelt Michael Haneke seinen Film – und in der Tat ist er ein fragmentarisches Episodenwerk, das kunstvoll um die Kommunikationsgestörtheit seiner zahlreichen Figuren kreist.

Ein kleines Mädchen vollführt vor ihrer taubstummen Klasse eine pantomimische Darstellung. Doch ihre ratlosen Mitschüler können das Gebärdenspiel nicht entschlüsseln. Der gesuchte Begriff bleibt ihnen verschlossen. Diese Eingangssequenz aus Code: unbekannt (Code inconnu: Récit incomplet de divers voyages), dem ersten französischen Werk des 1942 in München geborenen und in Österreich lebenden Michael Haneke, besitzt eine parabelhafte Funktion. Sie zeigt eine menschliche Unfähigkeit zu Kommunikation und Verständnis, die der Film in lose verbundenen Episoden weiterverfolgt.

Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Boulevard in Paris. In einer fast zehnminütigen, virtuosen Plansequenz werden dort die Hauptfiguren des Films etabliert: Anne (Juliette Binoche), eine aufstrebende Schauspielerin, trifft auf Jean (Alexandre Hamidi), den jüngeren Bruder ihres Lebensgefährten Georges (Thierry Neuvic), der als Kriegsberichterstatter im Kosovo tätig ist. Jean ist von dem Bauernhof seines Vaters (Sepp Bierbichler) geflohen und bittet Anne um den Schlüssel zu ihrer Wohnung. Auf dem Weg dorthin wirft er ein Stück Papier achtlos in den Schoß der Bettlerin Maria (Luminita Gheorghiu), woraufhin er in einen ausufernden Streit mit dem afrofranzösischen Taubstummenlehrer Amadou (Ona Lu Yenke) gerät. Amadou wird von der Polizei festgenommen, Maria, die sich als rumänische Immigrantin unerlaubt in Frankreich aufhält, droht die Abschiebung.

Innerhalb der Handlung wird nun eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die Haneke im weiteren Verlauf seines Films fortspinnt, indem er das Schicksal seiner verschiedenen Figuren aufmerksam verfolgt. Code: unbekannt verschließt sich dabei einer klassischen Erzählhaltung. Die gezeigten Lebensstationen der Figuren bleiben Fragmente, die oftmals abrupt, scheinbar willkürlich, mitten im Geschehen abbrechen. Haneke schildert das Leben als bruchstückhaftes Rätsel, als ein endloses Puzzle, dessen einzelne Teile sich nur mühsam – oder auch gar nicht – zusammensetzen lassen. Sein Film ist somit zwar denkbar „undramaturgisch“ erzählt, doch ohne dabei an innerer Spannung zu verlieren. Denn das Schicksal seiner Figuren – dargestellt von erstklassig agierenden Akteuren – vermittelt dieser mit einer berührenden Wirkung von Authentizität, Frische und Wahrhaftigkeit.

Sie alle sind auf eine Weise Fremde in einem fremden Land: Anne, die Schauspielerin, die sich im Leben behaupten muss; George, der aus den Krisengebieten der Welt zurückkehrt und sich wieder in die Normalität des Alltagsleben einfügen muss; Jean, der Bauernjunge, der in die Großstadt flieht; Amadou, dem aufgrund seiner Hautfarbe die Integration erschwert wird; Maria, die als rumänische Bettlerin einer ungewissen Zukunft im fremden Frankreich entgegensehen muss. Sie alle eint der Versuch, sowie das Scheitern, Zugang zu einer kommunikationsgestörten Welt zu finden – und dies auf verschiedenen Ebenen: auf der privaten als auch beruflichen, auf der familiären wie ethnischen.

Nun ist die Thematik der Kommunikationsstörung seit der Moderne ausreichend behandelt worden. Das Bewundernswerte an Hanekes Film liegt jedoch darin, mit welch konzeptueller Strenge und formaler Genauigkeit er diese umsetzt. Code: unbekannt wird vor allem über akribisch organisierte Plansequenzen erzählt, die im Zuschauer eine gewisse Distanz zum Leinwandgeschehen erzeugen. In dieser Verweigerung einer klassischen, involvierenden Szenenaufschlüsselung spiegelt sich Hanekes Bemühen, den Betrachter nicht mittels der üblichen Einwegkommunikation zu manipulieren und ihm stattdessen einen Freiraum zur eigenen Reflexion zu schaffen, aber auch das eigentliche Drama der Filmfiguren: wie diese können auch wir aufgrund unserer distanzierten Perspektive nicht restlos in die Welt der Anderen vorstoßen. Wir bleiben immer ein Stück außen vor, der „Code“ zum Zugang bleibt auch uns „unbekannt“.

Eng mit der Hauptthematik menschlicher Kommunikationsstörung verknüpft schildert Haneke aktuelle sozial-politische Probleme wie Migration, Diskriminierung, Generationskonflikte, gesellschaftliche Entfremdung und Erkaltung, was seinem Film einen realitätsnahen Hintergrund verleiht. Gleichzeitig stellt Code: unbekannt seinen Kunstcharakter ganz offen zur Schau und eröffnet einen selbstreflexiven Diskurs über die (Un-)Wahrhaftigkeit medialer Inszenierungen.

Ganz der kritische Anthropologe, der er ist, wirft Haneke die unbequeme Frage in den Raum, ob der Mensch überhaupt – nicht nur in der Auseinandersetzung mit Kunst, sondern auch im generellen Alltagsleben – zu einer unverfälschten Weltwahrnehmung fähig ist. Zwar tendiert er dabei gelegentlich zu einem etwas steril wirkenden Schematismus, dennoch ist Code: unbekannt ein kluges, wie ästhetisch reizvolles Stück europäischen Kinos.

Der Film steht 13.10.2024 in der Arte-Mediathek.

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