Charlie's Country – Kritik

Jenseits von Tradition und Moderne: Rolf de Heer erzählt von einem alten Mann und verweigert sich dabei der falschen Alternative zwischen Ethnoporno und postkolonialer Reflexionsolympiade.

Charlies Country 01

David Gulpilil ist Aborigine, und in Charlie’s Country spielt er gewissermaßen sich selbst. In einer frühen Szene engagiert ihn die lokale Polizei, um zwei Typen ausfindig zu machen, die in den umliegenden Wäldern nach Marihuana suchen. Gulpilil/Charlie steigt in den Polizeiwagen und fordert die Cops an einer Weggabelung schließlich zum Halten auf. Er sieht konzentriert in die Wälder, kniet sich in die Erde, um Fuß- und Autospuren zu untersuchen, betrachtet einen Stein. Dann deutet er eine der Straßen entlang: Dort irgendwo müssen sie sein. „Gestern Morgen, 10 Uhr“, fügt er noch hinzu. Die Polizisten schütteln anerkennend den Kopf, fasziniert von der Tracking-Kompetenz der Blackfellas.

Ureinwohner und Schauspieler

Charlies Country 02

David Gulpilil spielt sich selbst, aber er selbst ist nicht zuletzt Schauspieler. Mit 16 Jahren hat ihn Nicolas Roeg für seinen Film Walkabout (1971) gecastet, später spielte er in unzähligen Filmen mit Aborigine-Darstellern mit: von Peter Weirs Die letzte Flut (The Last Wave, 1977) bis zu Crocodile Dundee (1986) und Baz Luhrmanns Australia (2008). Doch nicht nur Gulpilil in diesem Film, auch seine Figur Charlie in der erwähnten Szene spielt etwas vor. Denn was wir, aber nicht die Polizisten wissen, ist, dass Charlie am Vortag von zwei weißen Jägern gebeten worden ist, bei der Marihuana-Suche zu helfen. Charlies erfolgreiche Spurenleserei ist keiner mystischen Verbindung zur Natur geschuldet, er selbst hat diese Spuren gelegt.

Die Szene ist nicht nur herrlich komisch, sie ist auch ein von Regisseur Rolf de Heer elegant freigelegter Weg durch den Dschungel der Repräsentationspolitik. De Heer will keine Betroffenheit heuchelnde Anklage von Leid und Unterdrückung, auch keinen Ethnokitsch machen, sondern versucht sich an einer Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Situation in Australien, die gleich mehrere Absagen enthält: ans ethnografische Kino, das zeitlebens mit dem Erbe der rassistischen Weltausstellungen aus der Frühzeit des Films zu kämpfen hatte; an den Anspruch des indigenen Kinos, eigene Geschichten der „Unterdrückten“ aus deren Blickwinkel zu porträtieren – wie de Heer selbst es mit seinem Arthouse-Erfolg 10 Kanus, 150 Speere und 3 Frauen (Ten Canoes, 2006) noch getan hatte; und schließlich auch an die stetig den eigenen Blick aufs Andere reflektierenden essayistischen Versuche, die dem Kamerablick inhärenten Machtbeziehungen selbst zu thematisieren. Ewige Gratwanderung: sich der machtvollen Hierarchien bewusst sein, sich aber nicht von ihnen leiten lassen. Differenz sichtbar machen, ohne sie festzuschreiben. Über die eigene Situiertheit und ihre Privilegien nachdenken, ohne sich in Reflexionsposing zu üben und mumblecore-mäßig nur mehr über sich selbst zu sprechen.

Zurück in den Busch

Charlies Country 03

Charlie’s Country ist bereits de Heers dritter Film, in dem interkulturelle Verhältnisse in Australien im Zentrum stehen. Denn schon vor den 10 Kanus befasste sich der Regisseur im weniger bekannten The Tracker (2002) anhand eines klassischen Western-Narrativs mit der Geschichte der über Jahrhunderte ausgeübten Gewalt an der Aborigine-Bevölkerung. Die Verstrickung des kinematografischen Apparats mit der Geschichte des Rassismus reflektierte de Heer dort, indem er die Gewalttaten nicht explizit ins Bild setzte, sondern im entsprechenden Moment auf indigene Wandmalereien schnitt, die Massaker der Weißen im Medium ihrer Opfer vergegenwärtigte. Mit seinem neuesten Film versucht sich de Heer nun an einer Bestandsaufnahme des Status quo im realistischen Modus. Für die Geschichte hat Gulpilil selbst den meisten Input gegeben und seine Erfahrungen einfließen lassen, nur deshalb spielt er gewissermaßen sich selbst. Und er trägt diesen wunderbar präzisen, in sich ruhenden Film mühelos.

Charlies Country 04

In einer frühen Szene wünschen sich Charlie und der lokale Polizist Luke (Luke Ford) einen guten Morgen. „You white bastard!“, schreit Charlie fröhlich, „You black bastard!“, ruft Luke zurück. Aber alles nur Spaß. Denn es geht hier nicht um die Darstellung individueller Ressentiments und rassistischer Vorurteile. Und doch wird Luke Charlie später verhaften und seine Empathie mit den unverbesserlichen Aborigines bereuen. Was dazwischen passiert ist, das erzählt uns dieser Film. Es ist eine simple Geschichte, in die der Skandal der kolonialistischen Landnahme hineinwirkt, sie aber niemals definiert. Charlies Problem ist nicht auf Rassismus reduzierbar und doch aufs Engste mit ihm verknüpft: Er ist schlicht pleite. Die Sachen im Dorfladen werden immer teurer, Jagen und Fischen geht nicht mehr, weil ihm die Waffenlizenz fehlt und sein Speer als potenziell gefährliches Objekt konfisziert wird. Keine Willkür, sondern Gesetze und Regeln, von wohlmeinenden Polizisten entschuldigend ausgeführt. Arbeits- und Obdachlosigkeit, Hunger. Charlie fällt irgendwann nichts mehr ein, als zurück in den Wald zu gehen, auf die Spuren seiner Ahnen. Zurück in den Busch, auf Nahrungssuche. Materielle Bedürfnisse, keine spirituellen. Kultur als Schicksal, aber als polizeilich durchgesetztes.

Der lange Weg zur Tradition

Charlies Country 05

Wenig später sucht Charlie Schutz vor dem heftigen Regen und muss erkennen, dass dieses Zurück ein unmögliches ist. Als er so daliegt und wir uns schon fragen, ob wir hier jemandem beim Sterben zusehen, zückt er ein altes Foto von einer Tanz-Performance vor dem Opernhaus in Sydney, der Queen Elizabeth II. beiwohnte. Eine berührende Szene, eben deshalb, weil hier kein weiser, alter Ureinwohner in die mystischen Weiten seines Landes blickt, sondern ein Mann sich seines Lebens erinnert. Charlie ist in de Heers Film stets Individuum, niemals Repräsentant seiner Kultur. Der Film verleiht ihm jene Subjektivität, die das rassistische System ihm verweigert. Charlie wird nicht über seine Herkunft definiert, vielmehr zeigt das Narrativ von Charlie’s Country, wie er ständig auf diese Herkunft zurückgeworfen wird. Am Ende – nach einem Krankenhausaufenthalt in Darwin und einem Rückfall in den Alkoholismus – nimmt er schließlich ein Angebot an, das er anfangs noch vehement abgelehnt hat: der Dorfjugend traditionelles Tanzen beizubringen. So werden am Ende doch noch „typische“ Aborigine-Praktiken zu sehen sein. Doch Charlies Weg findet nicht seinen Ursprung, sondern seinen Endpunkt in den kulturellen Traditionen. Diese sind nicht Ausdruck seines innersten Wesens, sondern Existenzangebot. Vielleicht das einzig annehmbare.

Trotz der unendlichen Traurigkeit, die aus Gulpilils Gesicht und überhaupt aus den sehnsüchtigen Bildern von Ian Jones strömt, ist Charlie’s Country kein Film, der über einfache Denunziationen und Aufklärung funktioniert. De Heer gelingt durch den Filter einer simplen Geschichte, die ohne klare Dramaturgie sich langsam auf der Leinwand ausbreitet, eine komplexe Bestandsaufnahme. Und weil er so streng aus der Perspektive seines Protagonisten erzählt, ohne zu versuchen, eine authentisch indigene Haltung ins Medium zu zwängen, lässt sein Film ein Verhältnis von Betrachter und Betrachtetem zu, das sich weder in betroffener Distanz noch in humanistischem Gleichheitspathos ergeht, das Erkennen des Gleichen im Anderen vielmehr gerade über die Differenz vermittelt. Charlie ist nicht Verkörperung des kulturell Anderen, aber er ist auch nicht „wir alle“. Sondern ein älterer Mann in ganz konkreten politischen Verhältnissen. Ein Leben.

Neue Kritiken

Trailer zu „Charlie's Country“


Trailer ansehen (1)

Neue Trailer

alle neuen Trailer

Kommentare

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.