Camouflage – Kritik

Berlinale 2022 – Forum: In der Gegend rund um ein früheres Internierungslager trifft der Schriftsteller Félix Bruzzone auf Menschen, die wie er von der argentinischen Geschichte gezeichnet sind. Camouflage macht sich ein Bild eines Schreckensorts und das Leid wieder sichtbar.

Es beginnt und endet mit einem langen Tracking-Shot eines Läufers. Zu Anfang sehen wir lediglich seine nackten Füße in enger Kadrierung, wie sie von schwerem Ausatmen begleitet die Asphaltstraße entlangrennen. In der finalen Sequenz steht das Gesicht Félix’ im Fokus, er blickt sich beim Laufen in der begrünten Umgebung um, die Scopebilder der Kamera sind an ihn herangerückt – das ist im Grunde den ganzen Film über so. Motivisch schließt sich also eine Klammer, aber die Suchbewegung, von der Jonathan Perels Camouflage (Camuflaje) handelt, ist auch am Ende keinesfalls abgeschlossen.

Hauptfigur des Dokumentarfilms ist Félix Bruzzone, ein in Argentinien einschlägiger Schriftsteller mittleren Alters, der sich mit der blutgetränkten jüngeren Geschichte seines Landes auseinandersetzt und die Idee zu Perels Drehbuch lieferte, im Film aber zu keinem Zeitpunkt seiner eigentlichen Profession nachgeht. Vielmehr joggt er Straßen, Waldwege und Bahngleise entlang und unterhält sich mit Menschen, die wie er von der Geschichte seines Landes gezeichnet sind. Alles dreht sich um den riesigen Militärkomplex Campo de Mayo, der nordwestlich Buenos Aires’ gelegen ist und der ultranationalistischen Militärjunta von 1976 bis 1983 als Internierungslager, Folterkeller und Hinrichtungsstätte für systemkritische Bürger diente. Auch Félix’ Mutter Marcela war hier interniert, verschwand wie so viele andere spurlos. Erst spät erfuhr die Familie, dass sie tatsächlich, für wie lange auch immer, an diesem Ort gefangen war, der gar nicht weit von ihrem Zuhause entfernt lag. Denn der Campo de Mayo gab sich die größte Mühe, wie eine reguläre Basis zu wirken; durch sie führten gar von Zivilisten genutzte Verkehrsstraßen. Folterzentren wie El Campito, an das heute Gedenktafeln in idyllischer Vegetation erinnern, lagen im Verborgenen. Die Natur war ihre Camouflage.

Ortserkundigungen

Und sie ist es letztlich noch heute. Das enorme, noch immer von Drahtzäunen abgeschirmte Areal liegt zum Teil brach, einzelne Bereiche werden heutzutage noch vom argentinischen Militär genutzt. Dieser Umstand verbreitet für die Anwohner, die wir gemeinsam mit Félix treffen, keinen Schrecken mehr. Doch das merkwürdig unnahbare, weil so weitläufige Camp hat sie bis heute im Griff. In episodisch aufeinanderfolgenden Begegnungen geht der Filmemacher Perel gemeinsam mit seinem „Interviewer“ Félix der Frage nach, wie sich der damalige Terror heute noch zeigt – und vor allem auch, wie unterschiedliche Charaktere diesen Raum umwidmen, ihm sogar Schönheit abtrotzen.

Félix trifft mehrere Menschen, die entlang der Basis wohnen und ihm entweder als Zeitzeugen von der Nutzung während der Junta erzählen oder aber mit ihm die menschenverlassenen Zonen des Camps durchforsten. Und so wird aus dem dezidiert politischen Film hie und da auch mal eine Art Naturdokumentation, die kurzzeitig an den Rand drängt, was sich hier an menschlichen Tragödien ereignet hat. Die unberührte Natur hat sich den Ort fast gänzlich zurückgeholt – man könnte sagen: Sie gibt ihm einen neuen „Tarnanstrich“.

Mit einem Ortskundigen knien wir etwa, von Naturgeräuschen begleitet, an einem entlegenen Flussufer und betrachten so lange die Wasseroberfläche, bis sich seltene Schildkröten zeigen. Dann wiederum weist ein älterer Forscher beim Spaziergang mit Félix auf die Artenvielfalt der Pflanzenwelt in der Sperrzone hin – falls Militär auftauche, solle das Drehteam einfach behaupten, sie seien Vogelkundler. Das passiert dann auch, allerdings bei einer anderen Erkundungstour: Die Kamera ist in Betonruinen mit drei jungen Frauen unterwegs, die wie Félix versuchen, aus der Gegenwart heraus sich ein Bild des Schreckensorts zu machen. Auf einmal stehen Soldaten in voller Montur im Bildhintergrund, das Filmteam kommt kurzzeitig vor die Linse, es werden zum ersten Mal Covid-Schutzmasken getragen und die Nachfragen der Soldaten möglichst vage und einsilbig beantwortet (man filme für ein privates Projekt).

Inszenierte Gegenwart

Abseits dieser Szene ist Camouflage kein Film, der seine Drehweise groß zur Schau stellt. Denn auch wenn die Kamera wenig Distanz bei den Gesprächen und Erkundungen wahrt, wird ihre Anwesenheit nie adressiert. Sie ist schlicht als ein aufzeichnender Apparat dabei, nicht als „weitere Person“ oder als Gegenstand produktionsmäßiger Reflexionen. Die Vertrautheit und Intimität, die sich mitunter bei den unterschiedlichsten Begegnungen zwischen Félix und seinen Bekannten einstellt, kann man deshalb vielleicht als eine ein Stück weit fingierte, also inszenierte verstehen. Das macht Camouflage aber nicht unwahr, der Film wird dadurch nicht zu einer bloßen Simulation oder dergleichen.

Oder anders: Es geht Perel mit seinem gradlinigen Dokumentarfilm schlicht nicht um essayistische Bild –sondern um handfeste Gedenkpolitik: nämlich in erster Linie darum, möglichst simpel zu einem bestimmten Ort und bestimmten Menschen gehöriges Leid sichtbar zu machen, das nicht mehr sichtbar ist; Staatsterror erahnen zu lassen, wo man mittlerweile nur Grünes sieht und Vogelgezwitscher hört. Und dafür scheint es jenseits der mitunter ohnehin trügerischen Gegenwartsbilder Informationen zu benötigen, die nur die Sprache vermitteln kann. Manchmal geht es in diesen Reden gar nicht um die Verbrechen der Junta. Auch Anekdoten vom damaligen Stadtleben am Rande des Sperrgebiets geben einem aber ein Gefühl für den Komplex – und, apropos Gefühl: Auffällig ist, dass alles, obwohl es doch um persönlichste Erfahrungen geht, in Camouflage recht unaufgeregt vor sich geht. Selbst Félix, der seine Mutter an dem Ort verlor, zu dem er beständig zurückkehrt, lässt kaum je sein Inneres nach außen treten.

Individuelle Geschichten

Dass der Schrecken eines Ortes sich nicht einfach in ihm symbolisch „aufspeichert“, selbst dann nicht, wenn sich Spuren der Vergangenheit erhalten haben, davon war schon der letzte, thematisch verwandte Film Perels überzeugt: In Corporate Accountability (Responsabilidad Empresarial, 2020), der ebenfalls im Berlinale-Forum seine Premiere feierte, werden Fabrikgebäude und Firmensitze aus einem Auto heraus abgefilmt, die in den 1970er bis 1980er Jahren Schauplätze aktiver Kooperation der Großindustrie mit der argentinischen Militärdiktatur waren. Zu diesen Fassaden- und Einfahrteinstellungen verliest Perel stoisch detaillierte Passagen aus einer wissenschaftlichen Studie, die nüchtern die Zusammenhänge aufarbeitet. Verglichen dazu hat Camouflage eine bestechende Unmittelbarkeit und Direktheit – der er aber nicht immer zu trauen scheint:

In einer inszenatorisch sich vom restlichen Film abhebenden Szene setzt sich Félix eine VR-Brille auf, die eine Gedenkstätte auf dem Camp-Gelände bereitstellt. Die Kamerabilder suggerieren im Folgenden seine Wahrnehmung. In einer immersiven Computeranimation durchschreitet er nun die Baracken des Militärkomplexes, wo heute nur noch Frei- und Brachflächen sind. Man ist in der Zeit zurückkatapultiert. Aber auch hier fehlen die Menschen, alle virtuellen Bauten sind wie die Überbleibsel der Gegenwart gespenstisch leer – alles soll abstrakt gehalten werden, das Individuelle weniger betont, als es Perels Film im Sinn hat.

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