Boris sans Béatrice – Kritik
Die Götter tanzen im versteinerten Zustand. Denis Côté schaufelt sich auf der Suche nach dem besseren Menschen zurück in den Polytheismus.

Bei einer Art basisdemokratischer Bürgersitzung im örtlichen Rathaus, in der die Ansässigen ihre Ersuche fürs öffentliche Leben äußern können, muss sich Boris (James Hyndman) ordentlich nach unten beugen, um auf Höhe des Mikrofons zu kommen. Lange macht die Einstellung das Mikrofon dabei nicht sichtbar, nur einen Buckel, eine seltsame Körperhaltung für einen Vorsprechenden. Diese Szene, ohne dass sie dabei groß nach Allegorisierung strebte, zeigt Boris als jenen arroganten Krösus, als der er gleich zu Beginn in Erscheinung tritt, wenn er in einem Haute-Couture-Geschäft ein paar Hemden kauft und die Kassiererin angeht, während hinter ihm eine Harfenistin zum Jubiläum aufspielt; von oben herab spricht dieser Musterkapitalist mit dem getrimmten Bart, den meterlangen Stelzen und den schlaksigen Armen. Das Volk ist kleiner als er, deshalb die Höhennormierung des Mikrofons. Ohne dass sie dafür mehr bräuchte als ein Paar gekrümmter Schultern, macht diese Einstellung diesen schäbigen Schnösel auch schon zum Clown. Es geht ihm um die Teerung seiner Hausauffahrt, die seit Jahren aussteht, während die Stadt, wie er befindet, ihre Ressourcen für Fahrradwege verschwendet, um Studenten und Ökos zu ködern.
Der interesselose Zustand

Mit Hochmut lässt sich leben, denn am Hochmütigen perlt das Ausgepfiffenwerden durch das einfache Volk ab wie der Regen am eigenen Mercedes. Hochmut steht nicht unter Strafe; die Moral ist tolerant, sie fordert keine politische Konsequenz, sie schickt kein Exekutivkomitee. Für diesen Toleranzbereich der Ethik interessiert sich Denis Côté: Der verachtenswerte Hochmut ist ebenso legal wie die Verachtung des Hochmütigen. Eine Gesellschaft, die sich in diesen Zustand einrichtet, läuft Gefahr, in ihm zu stagnieren: Wenn Boris seine Tochter auf der Polizeiwache abholt, weil diese für soziale Gerechtigkeit aufmarschiert ist, wenn auf der schicken Terrasse ein kurzes, allzu kurzes politisches Intermezzo stattfindet, wenn geklärt ist, wer links steht, wer rechts steht, wer einstreicht und wer zahlt, dann mag das die Harmonie aus der Familie peitschen, aber was kümmert’s diesen interesselosen Zustand? Wie überwindet man dieses Stadium gesellschaftlicher Indifferenz und ethischer Wurstigkeit? Boris sans Béatrice (Boris sans Béatrice) ist gewissermaßen eine filmische Fantasie einer solchen Bewältigungsleistung.
Wo sind die Götter

Beatrice (Simone-Élise Girard), eine Ministerin im kanadischen Parlament, ist von einer schweren Depression und einer lähmenden Melancholie befallen. Boris, ihr Ehemann, kümmert sich kaum um seine Frau; er schickt sie aufs Land, lässt sie pflegen und hüpft währenddessen durch Stundenhotels. In der griechischen Mythologie wurden solche Menschen von den Göttern in einen Bach gesetzt. Griffen sie nach dem Wasser, wich es von ihnen, schnappten sie nach den Früchten, zuckten die Äste beiseite. Wohin sind nur diese Götter verschwunden, die mit dem Hochmut noch ein echtes Problem hatten und einige Kreativität an den Tag legten, ihn zu ahnden? Die Alternative zum versteinerten Verhältnis in der Öffentlichkeit ist eine Rückkehr dieser Götter. Diese These, oder dieser mythenmutige Denkanstoß, gibt Boris sans Béatrice seinen Antrieb, einer mit tragisch-ironischen Abgasen und eigentlich auch gar keiner klaren Richtung, wie ein zu Beginn des Films zur Landung ansetzender Helikopter anzudeuten scheint, der gegen Ende in derselben Einstellung einfach kehrtmacht
Einfach mal wieder Mythen probieren

Man kann eine Szene dieses Films einfach ernst nehmen und eben gar nicht allegorisch verklausuliert lesen: Als Reaktion auf einen merkwürdigen Brief steht Boris einmal mitten in der Nacht in einem Steinbruch; ein gigantischer Scheinwerfer springt an, und eine gnomenhafte Gestalt in schmuckem Nachthemd (Denis Lavant) trifft ein. Sie plärrt mit theatralischer Stimme und befiehlt Boris, ein besserer Mensch zu werden. Skurril genug für die Banalität dieser Aufforderung, tritt in dieser Szene möglicherweise tatsächlich einer jener antiken Götter auf, zu denen sich unsere Welt zurückschaufeln müsste, um endlich wieder Wirksames gegen den Hochmut zu verschreiben. Später im Film wiederholt sich diese Situation; nun ist der Zwerggott aber nur noch als Stimme präsent, die körperlos aus dem Wald herausschallt. Dass ein Gott dem mythenfeindlichen Kapitalisten ganz besonders fremd sein dürfte, lässt sich fraglos einsehen. Umso ironischer verspricht es aber doch dann zu werden, wenn dem egoistischen Firmenhai ein solcher Gott vor die Nase gesetzt wird. Ob Boris dadurch ein besserer Mensch wird, ist eigentlich Nebensache. Fürs Erste muss es doch genügen, die Götter im versteinerten Zustand wieder mal tanzen zu sehen. Warum denn nicht – es einfach mal wieder mit Mythos probieren!
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