Bickels [Socialism] – Kritik
Am Anfang steht eine Irritation, am Ende eine Erschütterung: Ein Regisseur des Raumes und ein Architekt in der Zeit schreiben ihre Autobiografie. In Bickels [Socialism] bereist Heinz Emigholz Israel und hält die Bauten des Kibbuz-Architekten Samuel Bickels filmisch fest.

Es beginnt mit einer Irritation: Das erste Gebäude, dessen Räume Heinz Emigholz in seiner Architektur-Dokumentation Bickels [Socialism] auf der zweidimensionalen Bildfläche neu zusammensetzt, stammt nicht vom titelgebenden israelischen Kibbuz-Architekten Samuel Bickels (1909-1975), sondern von Ernst Mange und steht in São Paolo. Die Casa do Povo (1951), ein ehemaliges jüdisches Gemeindezentrum, das nun Kunst- und Kulturschaffenden einen Ort bietet, steht in keiner direkten Verbindung zu Bickels und seinen Arbeiten für die Sozialutopie der Kibbuzim. Und doch evoziert der südamerikanische Prolog sogleich Gedanken an antisemitische Verfolgung und jüdische Emigrationsbewegung, liegengebliebene Ideen und ein kulturelles Leben, das sich seine Räume schafft.
Flächen schichten sich zum Raum

Emigholz’ statische Einstellungen, die keiner festgesetzten Länge folgen und oftmals in leicht gekippter Stellung gleichermaßen räumliche Gesamteindrücke wie architektonische Details fixieren, bieten projizierte Blickkonstruktionen an. Dem Betrachter ist es überlassen, wie diese „in den Raum hineinfotografierten“ (Emigholz), dem gängigen Modus der Weitwinkel-Opulenz widersprechenden Aufnahmen sich gedanklich zu einem körperlichen Ganzen fügen. Die Tonspur springt einem dabei zur Seite: Auf die sprachliche Wissensvermittlung verzichtend, erzeugt sie einen durchgehenden Klangteppich, der den Einbildungsraum vormodelliert, eine körperlich empfundene Plastizität hervorruft, die über den jeweiligen Schnitt der zweidimensionalen Projektionen hinausweist.

Nachdem wir unter anderem einen verwaisten Theaterraum, lichtdurchflutete Atelierräume, Fassaden- und Dachterrassen-Formationen präsentiert bekommen haben, führt uns Emigholz in einen großen Aufenthaltsraum. Ein Beamer wird angeschlossen, Stühle aufgestellt, dann platzieren sich zahlreiche Zuschauer vor der angestrahlten Wand. Der Film beginnt: Die Opening Credits der eigentlichen Bickels-Dokumentation erscheinen. Sie ist Teil der mit Sullivans Banken (1993-2000) initiierten und nunmehr zehn Titel umfassenden „Architektur als Autobiografie“-Reihe. Dass wir das Publikum betrachten, wie es den Film betrachtet, den auch wir in der Folge betrachten, kennt man bereits aus Dziga Vertovs Der Mann mit der Kamera (1929). Während dort jedoch die Konfliktmontage die disparaten Einstellungen verband, ihnen neuen Sinn durch ihren Zusammenprall verlieh, ist für Emigholz die schlichte Addition das entscheidende Gestaltungs- und Erkenntnismittel.
Begehbare Ideen

Aber lässt sich von Erkenntnis überhaupt sprechen? Bietet uns Emigholz’ Architektur-Dokumentation nicht lediglich dar, was sich zu einem bestimmten Tag, unter bestimmten natürlichen Lichtverhältnissen für ein Raumeindruck einer zumeist modernen, jedoch kanonfernen Architektur gewinnen ließ? Sind diese Einstellungen, die zu kurz währen, um sich vollständig in ihnen zu versenken, und zu lang sind, um mit fotografischen Stills verwechselt zu werden (Emigholz hasst diesen Vorwurf), nicht reine Oberfläche, bloße formalästhetische Anordnungen? Einerseits schon. Aber andererseits sind für Emigholz die Materialität und die Idealität in der Architektur eins. Architektonische Räume sind materialisierte Ideen, die sich jemand von den Prinzipien des gemeinsamen Lebens, den Erfordernissen der Statik und der Wechselbeziehung der Formen machte. Wenn dieser individuelle Zugang sich über ein ganzes Leben verdichtet, kann daraus eine Autobiografie werden. Gleichzeitig schreibt auch Emigholz mit jedem Beitrag der besagten Reihe seine filmische Lebensgeschichte fort. Stets verbalisiert die dem jeweiligen Bau vorangestellte Texttafel neben dessen Name und Erbauungsjahr auch den konkreten Tag, an dem sich der Regisseur vor Ort befand. So verzahnen sich die Lebenslinien.
Die Geschichte in den Formen

22 erhaltene Bauten von Samuel Bickels (vorrangig kollektive Bauaufgaben wie Sporthallen, Speisesäle und Kulturhäuser als wesentliche Bestandteile der Kibbuz-Struktur) aus den 1940er bis 1970er Jahren besichtigte Emigholz zwischen 2015 und 2016 in Israel. Die filmische Erfahrbarmachung folgt, beginnend mit dem Kunstmuseumsbau von Ein Harod (1948), einer strengen Werkchronologie. Glücklich ist dieses vermeintlich simple Vorgehen auch deshalb, weil bereits in der ersten Arbeit Gestaltungsprinzipien aufscheinen, die im Weiteren immer wieder aufgenommen, variiert und modifiziert werden. Eine Individual- und Baugeschichte schreibt sich fort: Die wunderbaren Oberlichtkonstruktionen, die die Räume in sanftes und gleichmäßiges Licht tauchen; filigrane, schmucklose Pfeiler; wehrhaftes, mitunter unscheinbares Äußeres. Es stellt sich ein nicht-begriffliches, lediglich durch die Anschauung gespeistes Wissen um die sozialen wie ästhetischen Gebilde ein – und das Schönste dabei ist, dass es keinerlei architekturhistorischer Vorbildung bedarf. Man versteht gewissermaßen peu à peu, wie Bickels seine Räume auffasste und zugleich wie die Menschen sie nutzten und nutzen.
Stärker noch als vorangegangene „Autobiografie“-Beiträge scheint die geschichtliche Dimension der Bauten im Zentrum zu stehen. Mitunter lassen verwaiste Gemeinschaftsräume und renovierungsbedürftig erscheinende Strukturen erahnen, dass die Idee der Kibbuzim nicht mehr durchschlägt und sich gewandelt hat. Wehmütig ist der Film deshalb nicht. Architektur als Teil und Repräsentantin der Geschichte macht Prozesse durch, bleibt sich nicht gleich. Emigholz interessieren Bickels Werke aus dem Hier und Jetzt heraus; deshalb gibt es keine Aufbereitung mittels historischer Dokumente oder Eingriffe in die Inneneinrichtung. Emigholz filmt, was er vorfindet. Die Reduktion und Präzision, mit der er dabei vorgeht, ist alles andere als einfach und unmittelbar, es ist die „Konstruktion einer [baulichen] Konstruktion“. Dabei ist die Filmform nicht dogmatisch, sondern gibt sich ihrem jeweiligen Gegenstand hin. Dazu gehört vielleicht auch, dass Bickels [Socialism] seine strenge nonverbale Narration am Ende doch preisgibt: Der Epilog berichtet vom Leid der Bewohner des Kibbuz Vio Nova. Er ist ein Epitaph ihrer stalinistischen und nazistischen Verfolgung – nach der Irritation des Filmbeginns zum Ende eine emotionale Erschütterung.
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