Berlin Excelsior – Kritik

Macht den jungen Mann sein Date nervös oder die Kamera, die zuschaut? In Berlin Excelsior filmt Erik Lemke Bewohner eines Kreuzberger Mietshauses und ist live dabei, wenn sie sich inszenieren.

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Sie leben alle im Excelsiorhaus, einem gigantischen, im Berlin der 1960er Jahre erbauten Betonkoloss. Sie haben aber mehr gemein als nur den Wohnort in der Stresemannstraße. Denn peu à peu zeigt sich, dass fast alle Menschen in Berlin Excelsior unerfüllt sind. Da ist Michael, der zwar erfolgreich grindert, aber entschlossen ist, im Alter von fünfzig Jahren seinem Leben ein Ende zu setzen; Claudia, die im Restaurant arbeitet, aber Schauspielerin sein möchte und mit Fotoshootings ihrer Karriere einen neuen Impuls zu geben hofft; Norman, der das Geringverdienen als Erzieher satt hat und ein Start-up namens ChangeU gründet, dessen genaue Aktivitäten unklar bleiben, aber irgendwas mit Life Coaching, Fitness und Party zu tun haben.

Wäre Berlin Excelsior kein Dokumentarfilm, könnte man darin überzeichnete Darstellungen jener Leute wähnen, die erfolglos die Glücksversprechen unserer Gesellschaft einzulösen versuchen. Vielleicht gibt es in der Tat ein karikierendes, vielleicht auch nur ein schmunzelndes Element in der Wahl der Personen, der Situationen, in denen der Film sie abbildet, aber wenn Berlin Excelsior ein Dokumentarfilm ist, dann sind ihre Existenzen zumindest keine Karikaturen.

Der unbeobachtete Beobachter

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Berlin Excelsior widersetzt sich den gängigen Markern des Dokumentarfilms. Weder kommt der Dokumentierende zum Vorschein, noch werden Fragen gestellt, noch hören sich die Personen so an, als hätte man sie eben mit weggeschnittenen Fragen zum Reden gebracht. Überhaupt sprechen sie nicht mit, nicht zu uns, scheinen am Dokumentationsunternehmen nicht aktiv teilzunehmen; der Film hält die Illusion eines in sich geschlossenen Systems aufrecht; die Illusion, dass wir unbeobachtet beobachten können, dass sich die Wirklichkeit uns entgegenstreckt, ohne dass unser Blick auf sie einwirkt. Es ist aber nicht nur die Unsichtbarkeit des Dokumentierenden, die den Eindruck erweckt, dass wir in ein Leben lugen, das keine Notiz davon nimmt. André Kummels Kamera hat die Gabe, sich in Situationen wiederzufinden, die so intim sind, dass kaum vorstellbar ist, dass der Blick der Kamera sie nicht entstellt. Etwa als Michael eine neue Grindr-Bekanntschaft nach Hause einlädt. Und doch: Als er den jungen Mann fragt, ob er nervös sei, könnte man schwören, dass die Frage sich auf das Date bezieht und nicht auf die Anwesenheit eines dritten Blickes.

Der sublimierende Beobachter

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Berlin Excelsior ist aber kein naturalistischer Film. Er versucht zwar, möglichst wenig auf seinen Gegenstand einzuwirken – oder diese Einwirkung unsichtbar zu halten, denn natürlich wissen wir nicht, welche Erklärungen, welche Anweisungen den Szenen vorausgegangen sind; wir wissen nicht, wie konstruiert der Eindruck des Nicht-Konstruiert-Seins ist. Aber sein Blick ist kein naturalistischer, sondern ein stark ästhetisierender. Der Blick in Berlin Excelsior ist keiner, der vorfindet und das Vorgefundene möglichst naturgetreu wiederzugeben versuchen, das heißt, ein Blick, der unseren nachzuahmen versucht. Der Blick in Berlin Excelsior guckt, wie nur der Film gucken kann, in streng komponierten, starren Bildern, die einander ablösen wie bei einem Lichtbildvortrag.

Es sind Aufnahmen seltsamer Schönheit, etwa als sich bei einem Rohrbruch ein mächtiger Wasserstrahl auf einem Auto in der Tiefgarage entlädt. Es gibt nur ein Auto, der Strahl trifft es exakt in der Mitte. Wie kam es zu diesem Bild? Wie sehr wurde in die Wirklichkeit eingegriffen, um diese Aufnahme zu produzieren? Wie dokumentarisch ist diese Aufnahme noch? Erik Lemke spielt mit den Grenzen zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktiven, dem Vorgefundenen und dem Hergerichteten. Ein Spiel, auf das viele der beobachteten Personen ein Echo abgeben. Denn in Berlin Excelsior ist die Selbstdarstellung omnipräsent: Smartphones, Fotoshootings, Bewerbungsvideos durchziehen den Film und bebildern das Spannungsverhältnis zwischen der Illusion eines „Live-Dabei-Seins“ und inszenatorischen Bemühungen.

Der Wille zu gestalten

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So ambivalent sieht und gestaltet Berlin Excelsior auch seinen titelgebenden Gegenstand. Vermutlich gibt es einen Konsens darüber, dass die Architekten des Excelsiorhauses zeitlose Schönheit verfehlt haben. Das Haus atmet den Mief einer vergangenen Epoche, die im kollektiven Gedächtnis der halben Gesellschaft nur in Schwarz-Weiß abrufbar ist; seltsame Tafeln an der Fassade, auf denen ironischerweise ein verpixelter Himmel gedruckt ist, scheinen der einzige Verheutigungsversuch. Berlin Excelsior verweigert sich aber dem Fatalismus des Betonklotzes. Sich ihrer gestaltenden Kraft bewusst, zerlegt die Kamera immer wieder das Gebäude, guckt von überall drauf, wie auf der unentwegten Suche nach einem Schnitt, einem Winkel, der das Wohnhaus in besserem Licht dastehen lässt. Und tatsächlich, die Sublimierung gelingt. Wobei nicht das Haus an sich schön ist, sondern die Ausschnitte, ihre Aneinanderreihung, ganz ohne bindenden Schwenk, die ewige Abfolge geöffneter und geschlossener Fenster. Und natürlich – schließlich sind wir in Berlin – die Ästhetik des Zerfalls: Mitten im Schmuddel, im 17. Stock, gibt es ein edles Sky-Restaurant.

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Das Haus kommt also ganz gut weg, die Menschen bleiben unglücklich. Dabei sind sie nicht unähnlich: Das Haus ist aus der Zeit gefallen; die Menschen nicht in dem Zeitabschnitt, in den sie sich zurück- oder hinsehnen. Michael und Claudia leiden darunter, unaufhaltsam zu altern; Norman leidet darunter, keine finanzielle Unabhängigkeit erlangt zu haben, und träumt von einem „Später“, in dem er sich den Sportwagen leisten kann. Es sind nur drei Schicksale, aber die Wahl des Excelsiorhauses, dieses uniformen Baus mit den unzähligen kleinen, identischen Fenstern, hat etwas von einer großgesellschaftlichen Diagnose. Weltweit gibt es schon 350 Unternehmen mit dem Namen ChangeU, informiert ein Berater Norman; auch das hört sich nach Zeitgeist an.

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Kommentare


Richard Hebstreit

Déjà-vu wegen Motown

Für mich, einem einundziebzigjährigen Bewohner des Exelsiorhauses der zufälligerweise ein Protagonist des Filmes "Berlin Exelsior" war, der Norman, den Firmennamen ChangeU aus vielen Gründen ausreden will, war der Film ein totales Déjà-vu. Ein Déjà-vu mit und wegen Motown Sounds.

Denn, im Frühjahr 1968 bekam ich als junger Mann eine Einraumwohnung in Halle Neustadt im Block 10. Ich jobbte damals als Dreher in den Leuna Werken. Der damalige Wohnkasten war 380 Meter lang und bestand aus 320 Mehrzimmer- und 536 Einraumwohnungen. In Spitzenzeiten hatte das Gebäude etwa 3.000 Bewohner. (https://de.wikipedia.org/wiki/Block_10_(Halle-Neustadt)

Die Geschichten von damals waren kaum anders, als im "Berlin Exelsior" vor wenigen Monaten hier in Berlin life erlebt. Die Sehnsucht nach der Zukunft wurde dort an jedem Tag neu organisiert. Damals nicht mit Internet. Die Träume waren noch nicht virtuell oder digital definiert, sondern analog real. Nur, was analog war, wusste damals kaum jemand!

Die Zukunft war das analoge Westfernsehen, was man vom Dach aus mit komplizierten Fernsehantennen empfangen konnte. Zukunft waren Zufälligkeiten. Man hatte in Block 10 keinen Kellerraum, man hatte ca. zwei Quadratmeter Aufbewahrungsboxen am Ende des Flurs. Die Boxen waren nur schwach gesichert mit Latten. Irgendwann drückte ich manche Latten zur Seite, weil erkennbar war, die Besitzer der Aufbewahrungsboxen waren ausgezogen und wohl nach dem Westen abgehauen.

Ich eignete mir diebischerweise diese feine Plattensammlung an und konnte so zu finstersters DDR Zeit feinste Tamla Motown Records Platten hören, von denen kaum jemand eine Ahnung damals in der DDR hatte. Marvin Gaye und Stevie Wonder kannte waren in der DDR wenig bekannt. Alte New Orleans Jazz Platten waren auch dabei (Hot Fives & Sevens) https://de.wikipedia.org/wiki/Hot_Fives_%26_Sevens

So 1995 zog ich aus Halle Neustadt weg. Nach Thüringen. Eine Geschichte habe ich noch aus dieser Zeit:


Die zu Weihnachten 2017 eventuell passt:
https://rhebs.tumblr.com/post/69228455816/g%C3%A4nsebraten-marina






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