Ballerina – Kritik

Als Spinoff der John-Wick-Reihe steht Len Wisemans Ballerina vor demselben Dilemma wie seine Hauptfigur: Das Töten ist ein trauriges Schicksal, das ihm von außen aufgebürdet wurde. Und doch verspürt er innerlich auch diese unbändige Lust an der enthemmten Zerstörung.

Eve (Ana de Armas) dreht sich zu Tschaikowskis Schwanensee auf ihren Zehenspitzen, rutscht aus und fällt hin. Die Scheinwerfer sind auf sie gerichtet, im Zuschauerraum vor der Bühne sitzt nur die Direktorin (Anjelica Huston) der Ausbildungsstätte. „Nochmal!,“ weist sie an. Eve steht also auf, macht erneut eine Pirouette und fällt erneut hin. Immer und immer wieder. Ihre Schuhe sind blutig, der Boden unter ihr ist rot verschmiert, die Situation scheint klar zu sein: Eine drakonische Ballettlehrerin drangsaliert ihre Schülerin. Nur täuschen wir uns. Schon bald bietet die Direktorin Eve an, aufzuhören – aber nun ist es Eve, die weitermachen möchte. Wahrscheinlich besteht sie damit einen Test, der ihr Durchhaltevermögen bestimmen möchte. Aber wie sie die komplizierte Bewegung immer wieder und wieder versucht, wie sie wieder und wieder scheitert, bis es irgendwann doch Klick macht und die Pirouette sitzt: das zeigt eindrucksvoll, dass Eves Antrieb nicht von außen kommt, sondern tief aus ihrem Inneren.

Muss die Zukunft blutig sein?

Auch in späteren Szenen konfrontiert Len Wisemans Ballerina seine Hauptfigur immer wieder mit der Möglichkeit, Blut und körperliche Qual hinter sich zu lassen, die Ausbildung als Auftragsmörderin abzubrechen und ihren Rachefeldzug gegen die Mörder ihres Vaters aufzugeben. Speziell der ältere Auftragskiller John Wick (Keanu Reeves) – der Film bildet einen Nebenstrang der John-Wick-Reihe und ist größtenteils zwischen Kapitel Drei (2019) und Kapitel Vier (2023) verortet – redet ihr maulfaul, wie es seine Art ist, ins Gewissen und versucht sie mehrmals dazu zu bewegen, sich gegen ihre mörderische Pflicht und für die Menschlichkeit zu entscheiden. John Wicks weltanschaulicher Antipode ist der von Gabriel Byrne gespielte „Kanzler“ einer dubiosen, nie näher definierten Sekte – der zugleich der Mörder von Eves Vater ist. Dieser Kanzler hält Eve bei jedem ihrer Treffen entgegen, dass sie keine Wahl habe, dass es keinen freien Willen gebe, dass das Töten ihr unausweichliches Schicksal sei.

Der Hauptfunktion dieses diabolischen Sophisten scheint es zu sein, den anderen Figuren und dem Publikum immer wieder zu verstehen zu geben, dass menschliche Motivation gänzlich durchschaubar und Identität nichts als ein Gefängnis sei. Sein Heim ist ein Dorf in den Alpen; Holz und Schnee, biedere Sauberkeit und traditionelle Architektur bestimmen hier das Landschaftsbild. Die Bewohner des Orts stehen alle unter seiner Kontrolle und sind größtenteils gesichts- wie skrupellose Mörder, die wie wirre Ameisen durch die Gegend eilen. Wiederholt lässt er Mädchen zu sich zurückholen, deren Väter ihnen ein selbstbestimmtes Leben fern der Sekte bieten wollten.

Symbolische Verweise auf die Macht des Schicksals

Durch die Figur des Kanzlers verhandelt der Film seine großen Fragen: von den Pflichten, die jedes Individuum bestimmen, von der unpersönlichen Determiniertheit allen menschlichen Handelns, von der prinzipiellen Ausweglosigkeit jedes Ausbruchsversuchs, von dem zwingenden Einfluss der Gene und der Tradition, kurz: von der unabweislichen Macht des Schicksals, das unser gesamtes Dasein bestimmt. Diese symbolischen Verweise sind schlussendlich viel eindrücklicher als John Wicks allzu explizite Bitten, Eve möge sich doch gegen ihren vorgezeichneten Weg entscheiden.

Zwar gibt es für Eve auf ihrem Rachefeldzug immer wieder kurze Momente des Innehaltens und der Kontemplation. Aber danach lässt sie sich weiterhin gnadenlos von ihren Rachegefühlen antreiben. Das Dilemma, vor dem Eve steht und das Ballerina wirkungsvoll beschreibt, liegt eben darin, dass sie, um ihre Rache zu vollenden, dem Kanzler rechtgeben muss, ohne ihm dabei rechtzugeben – dass sie ihn umbringen muss, ohne seine deterministische Weltsicht (und damit ihre eigenen Ängste) zu bestätigen, nach der Eve nichts als eine skrupellose Mörderin ohne eigene, selbstbestimmte Identität wäre.

Eine unbekannte Ecke in einem vertrauten Universum

Die grundsätzliche Frage um Determinismus und Selbstbestimmtheit treibt aber nicht nur die Figuren in Ballerina um, sondern den Film selbst: Wie kann er ein typischer John-Wick-Film sein, der sich dem Einfluss der Vorgänger nicht entzieht, und doch zu einer eigenen Identität finden? Zunächst scheint der Film dem Kanzler rechtzugeben: Die Ereignisse des Plots sind eingelassen in atemlose, brutale, ballettartige, endlose Actionsequenzen wie man sie aus den bisherigen Filmen der Reihe kennt. Zwar führt nun erstmals nicht Chad Stahelski Regie, der ehemalige Stuntman und Actionchoreograph, dessen Baby die John-Wick-Filme sind, sondern Len Wiseman, dessen Filme wie Stirb langsam 4.0 (2007) oder Total Recall (2012) ihm nicht gerade den Ruf eines begnadeten Actionregisseurs eingebracht hatten. Doch tatsächlich fällt dieser Wechsel kaum ins Gewicht: die visuelle Masse und die Virtuosität der Action enttäuschen nicht.

Auch die Neonfarben, die schwerfälligen, bedeutungsschwangeren Dialoge und die Continental-Hotels – geheime Treffpunkte der Auftragsmörder aller Länder – geben einem das Gefühl, dass alles so ist, wie es im John-Wick-Universum immer schon war. Und doch schafft es Ballerina, seine eigene Stimme innerhalb dieser Vorgaben zu finden. Am augenfälligsten ist zunächst, dass die Figuren sich dieses Mal nicht durch ehrwürdige Räume wie den anthropologischen Flügel eines Museums oder eine Kunstausstellung ballern, sondern durch profanere Orte wie ein alpines Hipster-Restaurant oder das Hinterzimmer eines Waffengeschäfts.

Fröhliche Volksmusik begleitet die enthemmte Zerstörung

Vor allem aber sucht die Action in Wisemans Film mehr Nähe zum Cartoon-artigen. In den Alpen dudelt dann etwa fröhliche Volksmusik, wie zum Hohn der grimmig zerstörten menschlichen Körper. Oder wir bewegen uns rückwärts durch die Überreste einer Schlacht, wodurch gerade nicht die Zerstörung selbst, sondern vielmehr deren absurdes Übermaß betont wird. Und wenn ein Körper von einer Granate zerfetzt wird, dann verbindet der Film eindrucksvoll Slapstick und Splatter – wie überhaupt gerade die Lust an kreativer, staunenswerter Verwüstung in Ballerina sehr großgeschrieben wird. Der professionelle Ernst der früheren John-Wick-Filme erfährt so eine dankbare Erfrischungskur.

Was am Ende tatsächlich ein bisschen stört, ist John Wick selbst. Die als Rückblenden aus Kapitel Drei übernommenen Szenen ergeben dramaturgisch noch Sinn, aber warum John Wick dann selbst als handelnde Person nochmal ins Geschehen eingreifen muss, weniger. Ohne dieses Sich-Einschalten der bisherigen Hauptfigur würde Ballerina viel selbstbewusster zu sich selbst stehen können. Denn Wiseman schafft es zwar vielleicht nicht, die früheren John-Wick-Filme einerseits zu übertrumpfen und sich andererseits von ihnen freizumachen. Dennoch bricht der Film nicht unter der Last seiner Vorprägung zusammen, sondern er erschafft etwas Gleichwertiges und Eigenständiges – etwas, das seinen eigenen Neigungen entspricht.

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