Atmen – Kritik

Vom Krawattenbinden und dem Weg zurück in die Welt.

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Eine alte Frau stirbt. Eine jüngere, vermutlich ihre Schwiegertochter, ruft das Bestattungsunternehmen. Während der Chef gleichzeitig versucht, alles Nötige in die Wege zu leiten und die junge Frau zu beruhigen, bleibt Roman (Thomas Schubert) und Rudolf (Georg Friedrich) eine halbe Stunde Zeit, um die alte Frau bestattungstauglich zu machen.

In diesem heiklen Moment droht der schwelende Konflikt zwischen Azubi Roman und dem wenig umgänglichen Rudolf zu eskalieren. Auslöser ist eine fehlende Krawatte. Vor ihrem Chef, der Toten und der Hinterbliebenen reißen sie sich zusammen, kriegen die Kurve und sehen einander in der Folge mit anderen Augen. Mit professionellen, fast zärtlichen Handgriffen wäscht Rudolf die Leiche. Roman geht ihm erstmals zur Hand, beide arbeiten synchron, ihre Stimmen gesenkt. Das Treiben verliert an Geschäftigkeit, bekommt etwas Feierliches, beinahe Heiliges.

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Es ist die Schlüsselszene in Karl Markovics’ Regiedebüt Atmen. Ähnlich wie Robert Bresson, Jacques Becker und den Brüdern Dardenne gelingt es auch dem Österreicher, einen Blick für das Handwerk zu entwickeln. Es gibt Techniken, einen Zinnsarg zu tragen, und ebensolche, um eine starre Leiche hineinzubefördern. Es geht dabei um die Annäherung der filmischen Realität an die Wirklichkeit. Oftmals werden bei solchen Versuchen Strategien des semifiktionalen Erzählens entwickelt. Tatsächlich blickt die Kamera in Atmen auf den Job, folgt ihm, neutral, ohne Neugier, zeichnet seine Präzision auf. Insofern ist auch Markovics’ Film einem sozialrealistischen Prinzip verschrieben, allerdings ohne dass er sich dabei die Formstrenge der Vorbilder auferlegen würde. Zwar verheißt die starre Einstellung einer Landstraße zu Beginn das Traditionsbewusstsein eines Erzählens in Bildern, bei dem das Geschehen am Rand und außerhalb des Kaders von großer Relevanz ist – bevorzugt gegenüber einer Dramatisierung über die Montage. Und im Schlussbild gibt es da gleichzeitig eine Entsprechung und einen Bezug zum Pathos etwa Bressons. Doch Markovics’ Erzählen ist nicht ganz so reduziert, nicht ganz so minimalistisch und ökonomisch konzentriert. Da gibt es auch kleinere Abschweifungen, etwa wenn Roman im Zug einem Mädchen begegnet. Doch was von manchem Autor als Deus ex machina oder pures Love Interest misshandelt werden könnte, gehört bei Atmen zum System der Andeutungen.

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Roman ist im Jugendknast inhaftiert und der Job eine Auflage, um die mögliche Bewährung zu erlangen. Er soll sich anpassen, integrieren, soziale Fähigkeiten unter Beweis stellen.  Die Möglichkeit einer Perspektive für ihn, den Mörder, koppelt Markovics an die Figur des Rudolf. Während das Verhalten der sonstigen Umwelt gegenüber Roman eher statisch ist, manifestiert sich im Verhalten Rudolfs das integrative Moment. Die Wandlung im Verhältnis beider Männer könnte behauptet oder künstlich wirken, doch Georg Friedrich garantiert mit der Integrität seines Spiels für die feinen Nuancierungen des Films, die Markovics vor- und anschlägt. Es geht nicht um Freundschaft, sondern nur um Akzeptanz. Nach dem gemeinsamen Arrangement der Leiche inszeniert der Österreicher einen zweiten Moment, der den Wandel im komplizierten Verhältnis zwischen Roman und Rudolf manifestiert. Es geht um das Binden einer Krawatte. Keine Kunst, aber eine gemeinschaftlich vollzogene Geste.

In solchen Momenten unterscheidet sich Atmen durchaus erfolgreich vom Kino der Dardennes. Hier wird der Sozialrealismus transzendiert. Die Reintegration eines jugendlichen Gewalttäters gerät nicht zur Nabelschau und reicht über das reine Sozialdrama hinaus.

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Man darf sich also freuen über die Selbsternennung des Schauspielers Markovics zum Regisseur. Er arbeitet mit Brüchen, Ellipsen, Short Cuts und langen Einstellungen, pflegt einen eigenwilligen Humor und trifft anscheinend immer die richtigen Entscheidungen. Ein famoses Debüt.

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Kommentare


homeaffairs

Danke für dieses Highlight zum Jahresende. Für mich der beste Film des auslaufenden Kinojahres. Markovics gelingt es durch die perfekte Symbiose aus intelligenter Erzählweise, gekonnter Kameraarbeit mit großartigen Bildern, unaufdringlicher aber dennoch kraftvoller Musik und dem Stab aus ehrlichen Akteuren zu überzeugen und sich somit in die Riege der großen österreichischen Sozialdrama-Erzähler einzureihen. Haneke, Seidl, Markovics.
Eine großartige Darstellung des Kausalitätsprinzips und ein fantastisches Regiedebut. Ich freue mich schon auf den zweiten Streich!






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