At Berkeley – Kritik

Der Traum von Gleichheit. Frederick Wiseman durchleuchtet den Apparat einer der angesehensten Universitäten Amerikas.

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Seit über vierzig Jahren begibt sich Frederick Wiseman nun schon wissbegierig hinter die Türen von Institutionen und zeigt, wie sie funktionieren. Als Zuschauer kann man dabei immer etwas lernen. Egal, ob es sich um eine psychiatrische Anstalt (Titicut Follies, 1967) oder die US-Army (Basic Training, 1971) handelt, stets eröffnen sich tiefe Einblicke in einen unbekannten Lebensbereich. Über die Jahrzehnte ist Wisemans Blick milder geworden. Ging es in den frühen Filmen noch häufig darum, verborgenes Unrecht ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, wollen die neuen Arbeiten eher informieren als enthüllen. Dass sie trotzdem noch eine ungemeine soziale Relevanz besitzen, davon kann man sich in Wisemans neuestem Werk überzeugen.

Wie schon High School (1968) und High School 2 (1994) widmet sich auch At Berkeley einer Lehranstalt für junge Menschen; genauer gesagt einer der angesehensten Universitäten Amerikas. Wiseman durchleuchtet sämtliche Bereiche eines gigantischen Apparats: Von Seminaren bis zu Fakultätssitzungen, von Theateraufführungen bis zum Free-Speech-Movement-Café – in vier Stunden zeigt der Film, wie wichtig das gemeinsame Lernen ist, um die Welt um uns herum zu verstehen. Wisemans Art der Dokumentation ist dabei in besonderem Maße filmisch. Statt Talking Heads gibt es nüchtern aufgenommene Situationen, an denen wir als unsichtbare Beobachter teilnehmen. Keine Interviews, kein Voice Over, keine Musik und keine Zwischentitel, die uns zusätzliche Informationen liefern. Gerade in den trockenen Sitzungen der Verwaltungsbereiche, in denen sich der Film mitunter ungewöhnlich lange aufhält, kann das durchaus eine Herausforderung darstellen. Ein aktiver Zuschauer ist hier gefordert, mit der Bereitschaft, sich auf eine Sprache einzulassen, die ihm fremd ist.

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Es ist kein Zufall, dass sich Wiseman ausgerechnet für Berkeley entschieden hat. Denn während in den privaten Hochschulen wie Yale und Harvard eine recht homogene Elite herangezüchtet wird, ist die kalifornische Universität in staatlichen Händen und damit auch weniger privilegierten Studenten zugänglich. Der sozialen Vielfalt, für die Berkeley steht, setzt Wiseman mit seinem Film ein Monument. Die in idyllischer Provinzkulisse gelegene Lehranstalt interessiert ihn vor allem als gelebte Utopie. Hier kann ein auf Ausbeutung fundiertes Land die Fehler der Vergangenheit wiedergutmachen. Dem Traum von Amerika als einem Ort, in dem jeder alles erreichen kann, kommt Berkeley zwar ein Stück näher, jedoch ist Wiseman so klug, auch die fortbestehenden Ungleichheiten nicht zu verschweigen. So erfahren wir in einer Gesprächsrunde etwa von den Schwierigkeiten afroamerikanischer Studenten, in die weiß dominierten Lerngruppen aufgenommen zu werden. In Berkeley wird jeden Tag aufs Neue für die Ideale gekämpft.

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Immer wieder muss sich die Universität im Wandel der Zeit neu positionieren. So soll zwar der technische Fortschritt genutzt werden, aber für den Menschen, nicht gegen ihn. Um das zu veranschaulichen, stellt Wiseman zwei Szenen einander gegenüber. Auf der einen Seite eine studentische Musicalnummer, die sich kritisch mit den Scheinfreundschaften auf Facebook auseinandersetzt, auf der anderen ein Forschungsbereich, der in intensivem Austausch mit einem körperlich behinderten Mann eine elektronische Gehhilfe entwickelt. Ebenso wichtig wie der Ort ist Wiseman auch der Zeitpunkt seines Films: Aktuell steht die Universität vor einer historischen Wende, durch die sie ihre ideologische Grundlage zu verlieren droht. Weil die staatlichen Subventionen immer geringer werden, ist die Einführung von Studiengebühren nur noch eine Frage der Zeit. Und während in den Gremien die Köpfe rauchen, erwacht unter den Studenten die Bereitschaft zum Protest.

At Berkeley ist mit vielen kleinen Szenen, die sich nicht widerstandlos in das Ganze einfügen wollen, nach allen Seiten offen, folgt aber gleichzeitig einer durchdachten Dramaturgie. Wenn beispielsweise gegen Ende des Films demonstrierende Studenten die Bibliothek belagern, ergibt es plötzlich Sinn, dass Wiseman sich zuvor noch ausführlich den Sicherheitsbestimmungen der Universität gewidmet hat. Seinen Film lässt er damit auf einen dramatischen Höhepunkt zulaufen; eine friedliche, kleine Revolution, auf den die Hochschulleitung angemessen reagieren muss.

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Wiseman ist ein faszinierender, präzise beobachtender Film gelungen, der auf zugleich konzentrierte und zerstreute Art nicht nur von einem geschlossenen Mikrokosmos erzählt, sondern von Amerika. Kurze Einstellungen von überwiegend schwarzen Reinigungskräften und Bauarbeitern erinnern uns etwa daran, dass es trotz Berkeley noch viele Menschen gibt, denen der Weg zu höherer Bildung verwehrt bleibt. Daneben überrascht At Berkeley immer wieder, richtet seinen Blick etwa auf Minderheiten, die man bisher noch gar nicht als solche wahrgenommen hat. So wie eine Gruppe von Kriegsveteranen, die zwar in Afghanistan schon wahrlich Grausames erlebt hat, mit ihrer neuen Situation als Studenten aber hoffnungslos überfordert ist.

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