Arraianos – Kritik

Eloy Enciso porträtiert unser Bild eines Lebens jenseits von Raum und Zeit.

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Immer sind wir mittendrin, visuell wie strukturell. Mittendrin im Wald von A Raia, einer verlassenen Gegend im Grenzgebiet zwischen Portugal und dem spanischen Galizien; mitten auf der Straße zwischen den paar wenigen Häusern; mitten im Alltag der Bewohner, den titelgebenden arraianos: Ein Mann spaltet einen Baumstamm mit einer Axt, ein anderer sägt das Holz. In beiden Fällen ist das bearbeitete Material nicht im Blickfeld der Kamera, die Männer sägen und spalten aus dem Bild heraus. Es geht wohl nicht darum, was sie tun, auch nicht darum, wie sie es tun, ja vielleicht nicht einmal darum, dass sie es tun. Die ständig in Bewegung bleibende Kamera verweist immer auf sich selbst, schließt den Akt der Repräsentation mit ein: Was sagen uns diese Bilder eigentlich? Arraianos ist zugleich Porträt einer Gemeinde und Reflexion über das Porträtieren.

Auch die Tonspur ist Teil dieses kritischen Blicks: Arraianos ist ein Film mit berauschendem Sound Design, wie im Bild ist auch im Ton von Naturalismus keine Spur: Die Geräuschkulisse ist nicht motiviert durch die Neugier, wie so ein Ort wohl klingt, vielmehr ist jeder Laut einzigartig in seiner beunruhigenden Unmittelbarkeit und Konstruiertheit, existiert neben den anderen her – und wird doch Teil eines gänzlich eigenen Resonanzraumes, den dieser Film entwirft und der nicht mit dem Ort A Raia an sich zu verwechseln ist. Denn Regisseur Eloy Enciso macht immer wieder deutlich, dass er weit entfernt davon ist, ein getreu dokumentarisches Bild einer verlassenen Region zu zeichnen. Der Natur entnimmt er einen magischen Realismus, das Porträt der Menschen erinnert an frühe Dokumente à la Robert J. Flaherty, manchmal dann fast an die poetische Stilisierung, mit der Carlos Reygadas die Mennoniten-Gemeinde in Stellet Licht (2007) aufgenommen hat. Doch Natur und Mensch, das sind hier doch sehr prekäre Kategorien, wie wir bald feststellen müssen.

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Mit der durchgängigen Kontrastierung scheinbarer Objektivität und offensichtlicher Verfremdung arbeitet sich Enciso auch am ethnografischen Film und seiner Geschichte ab. Wer porträtiert hier wen, wer spricht für wen, wo ist die wirkliche Wahrheit von den Arraianos zu erfahren? Am deutlichsten tritt diese Meta-Ebene in jenen Szenen auf den Plan, die auf dem Theaterstück O bosque (1977) des galizischen Autors Jenaro Marinhas del Valle basieren. Gleich zu Beginn stehen zwei alte Frauen im Wald und verlieren sich in einer existenzialistischen Reflexion über das Wesen der Dinge, der Bäume, der Menschen, der Steine. Sind das fiktionale Elemente eines ansonsten streng dokumentarischen Films? Die Frauen sind „Darstellerinnen“ der Dialoge, Enciso stellt mit seiner Inszenierung sogar aus, dass sie mit fremden Zungen sprechen, doch gehören sie auch zur porträtierten Gemeinde, sind zugleich die ethnografischen Subjekte. Absurdes Theater im Herzen eines typisch dokumentarischen Settings, in dem zwischendurch ein Kalb geboren wird – das gleichberechtigte Nebeneinander dieser sehr unterschiedlichen Ereignisse lässt Gedanken zu, die über das bloße Konstatieren eines weiteren Falls von Doku-Fiction hinausgehen.

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Denn das offensichtlich Inszenierte der Dialoge aus O Bosque, das offensichtlich Mystische des Waldes, in dem später sogar eine Figur in Erscheinung tritt, die eine Apokalypse vorhersagt (und tatsächlich: ein großes Feuer wird kommen), all das stört das vermeintlich romantische Porträt des Alltags der Gemeinde nicht nur, vor allem verrückt es diese Dokumente. Ist das Bild von Frauen bei der Kohlernte nun echter als das von den philosophierenden Alten im Wald, und warum? Zwischen den Sagen, den Bildern des Alltags, dem modernistischen Theater, den traditionellen Liedern der Gemeinschaft keine Unterscheidung mehr: Was ist hier Vergangenheit, was Gegenwart, was ist authentischer Ausdruck des galizischen Niemandslands, was Theaterprojekt mit Laiendarstellern, was ist unverstellter Blick auf eine in der Zeit stehen gebliebene Gemeinde, was dem Blick von außen geschuldet, was ist traditionelle Lebensweise, was moderne Kunst, was ist Natur, was ist Mensch? Schön in diesem Zusammenhang auch, wie die alten Frauen ihre Lieder teilweise vergessen haben und selbst darüber lachen. In einem anderen Film stünden diese Szenen für das gefährliche Aussterben altehrwürdiger Traditionen, in Arraianos können wir uns da nie so sicher sein.

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Enciso beschwört diesen Ort, verweigert uns aber Totalen, die uns einen Blick auf das Ganze ermöglichen würden. Das Bild richtet sich eher nach dem Ton: Übereinander liegende Schichten aus Natur, menschlicher Arbeit, Tieren, die kein kohärentes Ganzes ergeben, sondern eine diffuse Formation, in der die Grenzen zwischen den Bildtypen nur so streng gezogen werden, um sie zu dekonstruieren. Das Stakkato der für einen so stillen Film doch relativ zahlreichen Schnitte ist Ausdruck einer faszinierenden Verunsicherung. Arraianos ist kein Film der Kontemplation, auch wenn das zunächst den Anschein haben mag. Vielmehr entsteht durch jeden Schnitt eine neue Verrückung, die anders über das Porträtierte und das Porträtieren nachdenken lässt, mit jedem Bild erneuert sich die Frage, was wir da eigentlich zu sehen bekommen und warum: die Antwort unerreichbar, sind wir doch immer mittendrin.

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