Angel Face – Kritik

Tiefpunkt in Cannes: Vanessa Filho filmt in ihrem Mutter-Tochter-Drama Angel Face (Un Certain Regard) stolz auf ihr Personal herab.

Pier Paolo Pasolini prägte einmal den Begriff der „freien indirekten subjektiven Perspektive“ – eine Wortgruppe mit einigen Ausfransungen und vor allem auch politischen Implikationen, die unterschiedliche Lesbarkeiten zulässt. Eine davon lässt sich zu einer Art autorenpoetologischen Theorie zusammenschnüren: Gemeint ist mit dieser Perspektivität dann „das Eintauchen des Autors in die Seele seiner Figur“. In Vanessa Filhos Angel Face gibt es eine Szene, in der dieser Tauchvorgang ganz besonders explizit ausgestellt wird. Wir sehen Marlène (Marion Cotillard: grauenhaft wie nie) rotzbesoffen, blondiert und überschminkt auf einer Tanzfläche. Billiger Stampftechno mobilisiert ihren kurz und eng verpackten Körper. Im Gegenschnitt sehen wir immer wieder das zwischen Leiden und Irritation zerrissene Gesicht ihrer achtjährigen, mittelgescheitelten Tochter Elli, die sich in einem heimlichen Moment einen Schluck von einem stehen gelassenen Mojito nimmt. Dann zieht sich das Gestampfe zurück und überlässt den Klangraum einem melancholischen Klavier, das brav, in Moll und mit schauderhafter Unaufdringlichkeit von der Tonika in die Subdominante und von dort in die Dominante hinüberklimpert – wie sich das eben gehört, wenn man hineintauchen will in einen Seelengang, der von der Gutgelauntheit in die Entmutigung führt. Vor jedem Interesse an der Innerlichkeit ihres Personals steht für Filho die Einhaltung der Deppenregeln des tonalen Systems. Die Seelen ihrer Figuren sind für sie so widerstandslos wie eine Wasseroberfläche. Man kann einfach hineinhüpfen, solange man gelernt hat, sich tonal nicht zu verspringen.

Ein Tauchersprung von richtig weit oben

Marlène ist alkoholkrank und lässt unmittelbar nach besagtem Seelengeklimper ihre Tochter alleine zu Hause zurück. Die leidet entsprechend sehr, beginnt – offenbar ist das psychologisch bewiesen – die Mutter nachzuahmen, trinkt hier und da ein Gläschen Wein und kürt bald den mit ganz besonders knuffigem Blick ausgestatteten Julio, einen ehemaligen Profiklippenspringer, den sie zwar nicht kennt, aber dessen Augenpartie sie zu vertrauen scheint, zum Ersatzpapi. Der wehrt freilich vorerst ab und übernimmt dann ebenso freilich doch die Verantwortung für das einsame, zu allem Übel auch noch schulhofgemobbte Kind mit quasisuizidalem Verhalten. Julio hat ein schwaches Herz. Nach einer Operation wurde ihm verboten, jemals wieder klippenzuspringen. Er würde explodieren, hüpfte er noch einmal ins Meer, sagt er der Kleinen, die mit dem Finger gerade an seiner Brustnarbe entlangstrich. Und wenn Julio am Ende doch noch einmal springt, weil er springen muss, dann findet Angel Face hier immerhin zu einem schönen Bild, das den Kern dieses Films noch einmal freilegt: Von richtig weit oben springt Julio ins Wasser, um seinen Tauchvorgang zu starten. Toll sieht das aus, wie sein Körper spitz den Hang hinuntersegelt, und stolz kann er auch sein auf diese Aktion, die letztlich natürlich eine Seelenrettung ist. Nur sein Versprechen zu platzen hält er nicht.

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