All I Had Was Nothingness – Kritik
Heute vor 40 Jahren fand die Uraufführung von Shoah statt. Guillaume Ribots All I Had Was Nothingness nähert sich Claude Lanzmanns neunstündigem Dokumentarfilm über den Holocaust nun vermittels Outtakes und persönlichen Erinnerungen – und bekommt dabei inbesondere die autofiktionale Dimension des Werks zu fassen.

Die seltsamste Einstellung in All I Had Was Nothingness ist zugleich die, die mich auf dem direktesten Weg zurückführt zu Shoah - man müsste vielleicht sogar sagen: zu der seltsamsten Einstellung Shoahs. All I Had Was Nothingness, dies kurz vorweg, ist vordergründig ein Film über die Entstehungsgeschichte der neuneinhalbstündigen Dokumentation Claude Lanzmanns über das Vernichtungswerk der Nazis an den europäischen Juden.
Regisseur Guillaume Ribot hat sich durch unzählige Stunden nicht veröffentlichten Materials gekämmt, die im Zuge der Arbeit an Shoah entstanden waren, und daraus - gepaart mit autobiografischen Erinnerungen Lanzmanns im Voiceover - einen großartigen Film gewonnen, der nicht nur die Produktionsgeschichte Shoahs auffaltet, sondern selbst zu einer Weise wird, Shoah zu sehen.
Autorschaft und Zeugenschaft
Anders formuliert: “All I Had Was Nothingness” ist zum 100. Geburtstag Lanzmanns, 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und 40 Jahre nach der Uraufführung Shoahs’ alles andere als ein ödes anlassbezogenes fernsehjournalistisches Porträt über einen der größten Dokumentaristen des Kinos. Sondern ein Film, der mit seiner starken, fast ausschließlichen Fokussierung auf die Person Lanzmann eine, wenn nicht die zentrale Dimension Shoahs freilegt. Eine Dimension, die darin besteht, dass die Autorschaft dieses Films immer ebenso hervorsteht wie seine Zeugenschaft, immer so hervorstehen muss, dass das eine nicht ohne das andere denkbar ist, dass diese Pole nur im Zusammenklang zu so etwas führen (können) wie einer Vermittlung der Geschichte der jüdischen Katastrophe.
Die Einstellung, die ich meine, zeigt Lanzmann in einem Hotelbett irgendwo in der Bundesrepublik der späten 70er Jahre. Er befindet sich, wie er es selbst sinngemäß ausdrückt, auf der Jagd nach ehemaligen Nazitätern. Die Bettdecke bis unter die Nase gezogen, blickt er direkt in die Kameralinse, die ihn aus einem stark untersichtigen Winkel ins Bild nimmt - ganz so, als filmte sie ihn heimlich. Lanzmann erwidert den verborgenen Blick der Kamera mit einer rätselhaften Mischung aus augenzwinkernder Souveränität und schamvoller Verlegenheit. Kurz scheint er vortäuschen zu wollen, zu schlafen, schließt die Augen, öffnet sie wieder und löscht das Licht.
Weisen der Autofiktion
Entscheidend an diesem Bild, das während der Dreharbeiten vermutlich nur beiläufig entstand scheint mir dieser ausgestellte Moment der Autofiktion zu sein - ein Moment, der, könnte man sagen, ein neues Register der Selbstinszenierung eröffnet, der über die Arten und Weisen hinausgeht, in denen sich Lanzmann ansonsten selbst ins Spiel bringt (Rauchen, Lederjacke, Tonbandverkabelung etc.), der ein merkwürdig privates, quasierotisches Verhältnis stiftet zwischen Lanzmann und seiner Kamera. Ein Moment, der ins Komische abgleitet.
In Shoah gibt es eine Einstellung, die ähnlich funktioniert. Sie zeigt Lanzmann vor dem verschlossenen Tor zum Haus der Wannseekonferenz. Es ist das vielleicht komplexeste Bild des ganzen Films. Natürlich ist diese Einstellung als Symbol für den Riegel lesbar, den der Holocaust seiner Vergegenwärtigung vorschiebt. Vielleicht ist sie auch eine politische Allegorie auf das Verdrängen in der Bundesrepublik und darüber hinaus (ein Aspekt, der bei Ribot fast wichtiger ist als bei Lanzmann). Aber darin erschöpft sich dieses Bild nicht. Denn Lanzmanns Reise an diesen verschlossenen Ort ist nur auf den ersten Blick vergeblich.
Mit Trenchcoat und Hut
Auch in der Einstellung am Haus der Wannseekonferenz, so würde ich behaupten, geht es in erster Linie um eine bestimmte Ausprägung der Selbstinszenierung, um einen Umschlag ins Komische. Aus der Entfernung sieht man Lanzmann vor dem Tor ausharren. Dann zoomt die Kamera langsam auf ihn zu - vorbei an Straßenschildern, Spaziergängern, Wohnanlagen, als reinigte sich das Bild nach und nach von allen Störmomenten der äußeren Wirklichkeit, als schüttelte es sein dokumentarisches Ansinnen mehr und mehr zugunsten eines Illusionseffektes ab, wie man ihn aus dem Film Noir kennt. Die Brennweitenveränderung als Verbildlichung der stummen Konzentration des Kriminalkommissars. Dazu passt - und darin liegt die komische Pointe - wohl nicht zufällig Lanzmanns äußerer Aufzug: Trenchcoat und Hut.
Natürlich zielt die Komik nicht auf die Erzeugung von Heiterkeit. Das Gegenteil ist der Fall: sie sorgt für Unruhe und Unbehagen, sie überformt das Material indem sie es entgrenzt, technisch wie moralisch.
Vergegenwärtigung von Nothingness
In keiner anderen Szene Shoahs ist mir die Artifizialität desFilms ähnlich vehement ins Auge gesprungen - Artifizialität als methodischer Ansatz, das Unvorstellbare und Undokumentierbare zu umkreisen, in der Absicht, das blinde Zentrum, den massenhaften Tod in der Gaskammer, den niemand aus ihrem Inneren bezeugen kann, von außen her abzustecken. Es führt kein Weg hinter die Mauern am Wannsee, hinter denen der Holocaust erdacht wurde, faktisch wie symbolisch. Was bleibt, sind filmische Verfahren zur Vergegenwärtigung dieser konstitutiven “Nothingness”.
Wenn Ribots Film eine Weise ist, Shoah zu sehen, dann deshalb, weil er die verschiedenen ästhetischen Verfahrensweisen (und damit auch die Heterogenität Shoahs) kenntlich macht, die um die titelgebende Nothingness, die Radikalität des Todes, gruppiert werden. Ribot verankert seinen Ansatz in der Figur und den verschiedenen Rollen des Filmautors selbst, der bis in den Schlaf hinein mit seiner Kamera im Bunde ist: Lanzmann als Kommissar, als Geheimagent mit falschem Namen, als Historiker, als Jäger, als Spielleiter, sogar als Rächer, der mit der Kamera auf Menschen zielt wie ein Scharfschütze. All dies sind notwendige ästhetische Regime, um so etwas wie Erinnerung und Zeugenschaft freizusetzen.
Zugleich aber gilt umgekehrt und unhintergehbar, dass das gemeinschaftliche Werk von Autor und Zeuge ein unmögliches ist und bleibt, indem es ein ums andere Mal Nothingness realisiert. Ribot bringt diese Dialektik in einer großartigen dramaturgischen Klammer auf den Punkt: Sein Film beginnt mit der stummen, beiderseits dramatisch unverstandenen Begegnung zwischen Lanzmann und Simon Srebnik, der die Vernichtung Chełmnos überlebt hat, und endet mit dem nach Trost suchenden Filmemacher, der in den Armen Jitzhak Zuckermans, des Widerstandskämpfers aus dem Warschauer Getto, zusammensinkt, konfrontiert mit der Unmöglichkeit, zu erklären, was das eigentlich soll, was er da tut.
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