Agnes und seine Brüder – Kritik
VoD: Ganz ohne Sozialkitsch oder moralische Keule inszeniert Oskar Roehler in seinem neuesten Werk eine Kritik deutscher Befindlichkeit. Mit Spaß und Gefühl werden die Geschichten dreier Geschwister erzählt, die auf der Suche nach ihrem Lebensglück sind. Zusammen bieten sie ein tiefgründiges Gesellschaftsporträt unserer Gegenwart.

Im Alltagsleben verankerte Geschichten und Charaktere sind Mode im deutschen Kino. Aber seltener ist es, dass unser Gegenwartskino zwischen den Zeilen eine reflektierte Aussage über die gegenwärtige Befindlichkeit in Deutschland wagt. Repräsentationen der politisch-historischen und der psychologisch-emotionalen Zustände werden meist voneinander getrennt. Oskar Roehlers neuer Film Agnes und seine Brüder ist ein dramaturgisch zugespitztes Spiegelbild deutscher Realität. Gleichzeitig ist die satirische Familiengeschichte nie zu konzeptionell erzählt und arbeitet sowohl mit komischen als auch melodramatischen Elementen.

Im Zentrum von Roehlers Deutschlandporträt stehen drei Brüder mit unterschiedlichen Lebensentwürfen auf der Suche nach ihrem Glück. Der äußerlich erfolgreiche Politiker Werner kämpft um Anerkennung. Hinter der schicken Fassade bröckelt es in der Vorzeigefamilie. Seine Frau verachtet ihn, sein ältester Sohn hat jeden Respekt vor ihm verloren, selbst die Parteikollegen erwärmen sich nicht so recht für sein politisches Kampfthema der Einführung eines europäischen Dosenpfands. Sein Bruder Hans-Jörg arbeitet als Bibliothekar und kann seine Augen nicht von den knappen Röcken junger Studentinnen lassen. Er ist sexsüchtig und sucht eigentlich die wahre Liebe. Die jüngste der drei Brüder ist Agnes. Ihre Liebe, für die Agnes ihr Geschlecht gewechselt hat, liegt weit zurück in der Vergangenheit. Gemeinsam haben die Brüder einen Vater, der als gealterter Revoluzzer in einer herrschaftlichen Jugendstil-Villa lebt und behauptet, die Mutter sei in Stammheim gefoltert worden.

Die drei Geschichten ergeben eine große, organisch verwobene Erzählung deutscher Gegenwart. Schon allein die Schauspieler sind mitreißend. Im Ehekampf ist Herbert Knaup zwischen Parodie und Hysterie der kühlen Komik Katja Riemanns ausgesetzt. Moritz Bleibtreu ist wunderbar gegen den Typ besetzt als schüchterner verschmitzter Voyeur. Und Newcomer Martin Weiß verkörpert Agnes als anmutige Transsexuelle mit Selbstachtung und Sehnsucht. Hinzu kommt eine raffinierte Bildsprache, in der Roehler teilweise mit artifiziellen Inszenierungsstrategien arbeitet, die Bildwelten aufgreifen, die mit unserer kulturellen Identität verschmolzen sind. So ist Agnes Geschichte z.B. ein Remake von Fassbinders In einem Jahr mit 13 Monden (1978). Die hübschen Studentinnen, an denen Hans-Jörg leidet, könnten wiederum aus den Schulmädchenreporten entsprungen sein. Die parodistische Nähe zu Trittin verhindert zwar, dass wir der Figur Werner mit echter Empathie begegnen, ist aber ein gelungener wie unterhaltsamer Kunstgriff zur Verbindung des Privaten mit dem Realpolitischen. Dabei geht Roehler allerdings nicht so bedingungslos politisch vor, wie seinerzeit Fassbinder, der ebenfalls in seinen Filmen auf der Suche war nach der Gemeinsamkeit von Politik, Gefühl und Gefühlsinszenierungen in populärer Musik und Genrefilmen. Roehlers Ansatz ist weniger kopflastig, er arbeitet eher intuitiv und humorvoll. Dies erstaunt durchaus, bedenkt man die bisherigen Arbeiten dieses Regisseurs, die weniger leicht zugänglich waren.

Der Titel des Films ist eine Anspielung auf Luchino Viscontis Rocco e i suoi fratelli (Rocco und seine Brüder, 1960) und lässt eine Nähe zum Neorealismus, oder zumindest eine Travestie neorealistischer Strategien vermuten. „Ich kämpfe ja nun schon seit Jahren für ein Kino, das ein realistisches Deutschland zeigt: das Leben in Deutschland, wie es wirklich ist“, sagt der X-Filme Produzent von Agnes und seine Brüder Stefan Arndt. Das Problem mit dem Realismus im Kino ist nur, dass es ihn eigentlich nicht gibt. Jeder Film fiktionalisiert. Regisseure selektieren Teile der Realität und setzen sie zu einer neuen, einer filmischen Realität zusammen. Das Spiel mit dokumentarischen und fiktionalen Erzählstrategien führt bei Roehler zu einem effektvollen Gesamtbild, indem die politisch-soziale Befindlichkeit eng verknüpft ist mit individuellen Emotionswelten. Dabei nutzt er die Kamera als filternde Instanz zwischen äußerer Realität und innerer Befindlichkeit und thematisiert auf unterschiedlichen Ebenen eine Einheit von Beobachten und beobachtet werden. Mit einer ikonographisch gesehen dokumentarischen Szene beginnt Agnes und seine Brüder. Auf grobkörnigem Filmmaterial und in schwarzweiß sehen wir Agnes in einer Interviewsituation. Die dokumentarische Inszenierung wird schnell abgelöst durch einem Gegenschnitt in Farbe: Die Fassbinderschauspielerin Margit Carstensen hinter einer Schmalfilmkamera filmt Agnes. Der Sohn von Werner bannt die Eigenarten seines Vaters, der als Karikatur von Jürgen Trittin bei einem Telefonat mit Joschka Fischer seine Notdurft verrichtet, auf Video. Eine treffende Verbildlichung der 68er-Parole „das Private ist politisch“. Und der Voyeur Hans-Jörg, dessen Blick der Zuschauer in subjektiven Einstellungen übernimmt, ist zugleich Täter und Opfer seines eigenen Blicks. Jedes dieser Beispiele behandelt gleichzeitig eine Innen- und eine Außensicht, die strukturell in der Bildsprache angelegt ist. Roehler visualisiert auf unterschiedlichste Weise Polaritäten, trennt diese aber nicht voneinander, sondern zeigt, dass sie vielschichtig miteinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen. Indem er allein auf der visuell-strukturellen Ebene Oppositionen versinnbildlicht, Paradoxe gleichzeitig nebeneinander existieren lässt und Systeme von Teufelskreisen und gefühlsbedingten Abhängigkeiten aufstellt, zeichnet Roehler, ähnlich wie seinerzeit Fassbinder, ein aktuelles Bild innerdeutscher Realität, einer nationalen Psyche auf Identitätssuche.

Agnes und seine Brüder ist ein reifer Film für ein breites Publikum, unterhaltsame und nie langweilige Reflexion nationaler Befindlichkeit ohne moralischen Zeigefinger. Man könnte dem Film auf den ersten Blick vorwerfen, er sei in seiner Haltung nicht pointiert genug, beziehe in seiner Darstellung deutscher Realität keinen klar definierten Standpunkt, könne sich stilistisch nicht entscheiden zwischen Komödie, Melodram und kritischer Sozialstudie. Aber gerade die Untrennbarkeit deutscher Gegenwart mit individueller Empfindsamkeit, Sehnsucht und Hysterie ist Roehlers Statement.
Der Film steht bis 20.04.2023 in der ARD-Mediathek.
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Kommentare
Claudia Meister
Habe gerade Ihre Kritik gelesen und es ist immer wieder interessant, was man so alles in irgendwas interpretieren kann, z.B. Anspielungen und imm r wieder gerne genommen Abgründe hinter klein-oder auch großbürgerliches Milieu. Also um es kurz zu machen, mein Mann und ich waren ziemlich enttäuscht. Nicht über die Schauspieler, die wirklich wunderbar waren aber über die üblichen Klischees, die fast alle bedient wurden. Sodomie, Sexsucht, Drama in der Familie und jetzt ganz neu "Stammheim". Es gab zig Erzählstränge, die nur angedeutet wurden und nicht mal im Ansatz erklärt wurden. Was mich persönlich am meisten geärgert hat war, warum sind Transsexuelle immer so unglaublich tolerant und sanft und so sehr Prüfungen ertragend ? Mein Fazit aus diesem Film ist eigentlich, wie egozentrisch unsere Gesellschaft geworden ist und das meine ich nicht nur auf Deutschland bezogen und das finde ich wirklich schade.
Claudia Meister
MS
habe mich köstlich amüsiert...weiter so...
2 Kommentare