Abiding Nowhere – Kritik
Berlinale 2024 – Special: Die Grundidee von Tsai Ming Liangs Walker-Filmen ist einfach: Stammschauspieler Lee Kang-sheng, gehüllt in buddhistische Garderobe, bewegt sich so langsam wie möglich durch urbane Landschaften. In Abiding Nowhere führt der Streifzug durch Washington D.C.

Inhaltsleer und weder Handlung noch Schauspiel – was klingt wie billigste Polemik gegen Tsai Ming-liangs Gesamtwerk, ist in Wirklichkeit bescheidene Selbstzuschreibung. Als Koryphäe des sogenannten Slow Cinema braucht der taiwanesisch-malaysische Regisseur den Festivalbetrieb, und der Festivalbetrieb braucht ihn. Bevor Tsai Ming-liang auf der Berlinale den neuesten Beitrag seiner nunmehr zehnteiligen Walker-Serie vorstellt, lud ihn das Förderprogramm Berlinale Talents zum Artist Talk ins Theater Hebbel am Ufer. Mit „Alternative Narratives: Art as Articulated by Tsai Ming-liang“ ist die Veranstaltung überschrieben. Tsai bewegt sich abseits der gewohnten Pfade.
Gesprochene Sprache obsolet machen

Ganz anders als seine Filme tritt der Regisseur sehr redselig auf. Das Mandarin sprudelt nur so aus ihm heraus, wenn er über Fassbinder (Angst essen Seele auf, 1974), Schönheit und TikTok spricht. In seinen Filmen hingegen sprechen nicht Menschen, nur Bilder, denn Tsai hat erkannt, dass die vom Medium bereitgestellten Ausdrucksmittel – Kamerabewegung, Mise en Scène, Schnitt (und besonders Schnittverzicht) – die gesprochene Sprache obsolet machen. Die Berlinale widmet ihrem jahrzehntelangen Stammgast dieses Jahr besonders viel Aufmerksamkeit, hat sein virtuoses Pornomusical The Wayward Cloud (2005) 4K-restauriert, zu sehen in der Sektion Berlinale Classics.
Hier sitzt also ein Filmemacher mit voll ausgebildeter Formensprache und einer mehr als dreißigjährigen Karriere im Rücken. Selbigen hat Tsai jedoch schon nach Stray Dogs (2013) dem Kino zugewandt, oder vielmehr der Arbeit im filmindustriellen Nexus von Förder- und Finanzierungszirkus. Seitdem arbeitet er verstärkt – Days (2020) war eine Ausnahme – mit Kunstgalerien und Museen zusammen, irgendwoher muss das Geld ja kommen.

Seine Walker-Filme werden als Installationskunst oder Visual Art rezipiert, kommen aber auch manchmal auf die große Leinwand, wie jetzt Abiding Nowhere. Und es lohnt sich, diesen Film im Kino zu sehen. Die Grundidee aller Walker-Filme ist einfach wie genial: Tsais Stammschauspieler Lee Kang-sheng, gehüllt in buddhistische Garderobe, bewegt sich durch meist urbane und meist westliche Landschaften, Tempovorgabe à la John Cage: as slow as possible. Manchmal bekommt er einen zweiten Läufer zur Seite gestellt.
In Abiding Nowhere ist das – wie auch schon in Where (2022) – der junge Anong Houngheuangsy. Auch der hat’s nicht besonders eilig auf seinen touristischen Streifzügen durch Washington D.C., in der Sonne, im Schatten und im National Museum of Asian Art (die Smithsonian Institution hat den Film finanziert). Das Washington Monument und die National Capitol Columns sind weitere städtische Fixpunkte, die die beiden Männer aufsuchen – ohne sich je zu begegnen. Gleich zu Beginn des Films schiebt sich die Sonne hinter den Wolken hervor. Wer Tsais Kino kennt, weiß, dass dort eigentlich der Regen die elementare Rolle spielt; einen verlässlicheren atmosphärischen Begleiter der Einsamkeit gibt es kaum.

Behutsame Inszenierungen beobachtbarer Bewegung
Einsam geht es auch in Abiding Nowhere zu, wenn auch weniger existenziell. Die einzige Begegnung des Mönchs ist die mit seinem Schatten, aber auch der ist ihm immer einen Schritt voraus. Die Sonne durchflutet die statischen Einstellungen aber nicht mit Psychologisierungsangeboten, sondern ist vor allem Lichtquelle, die Schattenumrisse an Hauswände zeichnet. Sie isoliert reine Bewegungen und rückt sie für uns ins Licht. Denn das sind alle Walker-Filme: Behutsame Inszenierungen von beobachtbarer Bewegung.
Natürlich kann man das Projekt auch anders lesen. Als ästhetisch-politische Intervention gegen eine von der Natur entfremdete Konsumgesellschaft im grenzenlosen Beschleunigungswahn zum Beispiel. Menschenmassen, mit Einkaufstüten bepackt und aufs Handy starrend, hasten blind über die Straße – der Walker mittendrin ein weltfremder Ruhepol. In einigen Szenen sind Flugzeuge am Himmel zu sehen; ihr Lärm übertönt das Vogelgezwitscher. Aber Tsai ist kein Fatalist, er hält nur die widersprüchliche Spannung des modernen Lebens in Bildern fest. Am Ende sitzt Anong Houngheuangsy in einem Apartment, er hat sich etwas zu essen gemacht. „TIME TO CHILL“ steht auf seinem Tanktop, dessen Produktionsbedingungen vermutlich keineswegs chillig waren. Die Suppe schmeckt trotzdem.
Neue Kritiken

Miroirs No. 3

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes

Kung Fu in Rome

Dangerous Animals
Trailer zu „Abiding Nowhere“


Trailer ansehen (2)
Bilder




zur Galerie (7 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.