A Spell to Ward Off the Darkness – Kritik
Aufbruch zur Utopie: Ben Rivers und Ben Russell spüren der Hoffnung nach, in Gemeinschaft, Natur und Musik.

Im einen Augenblick hat sich der schwarze Mann noch in einer verlassenen Waldhütte das Gesicht weiß angeschmiert, im nächsten füllt seine verzerrte Visage die ganze Leinwand: Inbrünstig schreit er ins Mikrofon und ist zum Musiker geworden, der er ist: Robert Aiki Aubrey Lowe – nach wie vor mit weißer Schminke, begleitet von einer Black Metal Band. Welten liegen zwischen diesen beiden Szenen, möchte man meinen. A Spell to Ward Off the Darkness funktioniert allerdings nicht über Distanzen, die zurückgelegt werden, wie sie im klassischen Storytelling durch Chronologien hergestellt werden, sondern organisch als Akkumulation. Kein Bild löscht das vorhergehende aus, die Erinnerung kann beides gleichzeitig denken: das Gewesene und die Gegenwart. Grundsätzlich gilt dieses Muster zwar immer, den meisten Erzähldramaturgien läuft es aber zuwider, weil sie darauf aus sind, eine Entwicklung zu suggerieren, bei der Geschehnisse eine Abkehr von der Vergangenheit fordern: Der Protagonist nimmt Abschied von schlechten Gewohnheiten, dem sicheren Hafen oder schmerzhaften Gedanken. Im Sinne einer Reduktion kognitiver Dissonanz – was nicht zusammenpasst im Hirn, wird überspielt – muss das Glück vom Schluss auf die Distanz setzen: die Entfernung vom (früheren) Unglück. A Spell to Ward Off the Darkness hat solche Absicherungen nicht nötig.

In ihrer ersten gemeinsamen Arbeit wollen die beiden Filmemacher Ben Rivers und Ben Russell Utopien mental und physisch erfahrbar machen, in der Gemeinschaft, in der Natur, in der Musik. Eine dreigliedrige Struktur setzt Zeiten, Menschen und Orte nebeneinander, scheinbar nur lose verbunden. Spätestens aber wenn im dritten Teil Robert AA Lowe mit all seiner Kraft schreit, dann überlagern sich die drei Stränge. Unmöglich, hier nicht auch den naturverbundenen Eremiten zu sehen und zu hören, als der er Minuten zuvor durch die Berge stieg, am Feuer saß, dem See lauschte. Ganz nah ist nun auch die Kommune, deren Mitglieder weiter vorne im Film fröhlich und nachdenklich, lüstern und lustvoll einander ausprobierten. Im Abspann erfahren wir, dass der eine Abschnitt in Estland, der andere in Finnland und der dritte in Norwegen spielte. Eine Information, die so konkret wahr und gelogen zugleich klingt. Wahr, weil Rivers und Russell keine abstrakten Theorien oder Ideale, sondern lebendige, welthaltige Bilder eingefangen haben. Gelogen, weil jeder Moment so wahrhaftig und unmittelbar wirkt, dass noch jedes Etikett, das auf die Gemachtheit der Zusammenhänge hinweist, wie ein persönlicher Angriff wirkt. Auf mich als Zuschauer, der ich nicht nur Zeuge bin, sondern Akteur. Was zunächst wie Kontemplation wirkt, entpuppt sich schnell als Teilhabe.

A Spell to Ward Off the Darkness ist frei übersetzt ein Zauberspruch, um die Dunkelheit abzuwehren. Wer suchet, der findet: Bewegte Bilder von Menschen, die sich verstehen wollen, sich gegenseitig Licht und Aufmerksamkeit schenken. Ekstatische Aufnahmen einer sich fast komplett überlassenen Natur, wo jeder Blick immer auch eine Entdeckung in sich birgt. Die höchste Intensität menschlicher Anspannung im Konzert, und die Gelöstheit, die sie verursacht. Für eine mystische Lektüre bietet der Film durchaus Stoff an. Aber eher en passant. So sehr man auch bei einem solchen Titel versucht ist, mit den Zuschreibungen um sich zu werfen, holen einen Rivers und Russell – Regisseure, Autoren, Bildgestalter und Monteure des Films – doch immer wieder auf den Boden der Tatsachen. Eine davon ist die beinahe traumwandlerisch perfekte Ungenauigkeit, mit der die Kamera den Protagonisten in der Kommune folgt. Eine andere ist die Geschichte, die ein Mann einem zweiten nach der Sauna erzählt: Er erinnert sich an ein Haus, zu dem er gehörte, und einen Augenblick des Glücks im Dampfbad, als am Ende ein jeder einen Finger im Anus eines anderen hatte und den Finger eines anderen im eigenen. Die Details sind diffus, aber die beiden Fetzen bleiben: Ein Haus und eine juvenile Freude an der scheinbar unerhörten Lust. Er lacht. Sein Gesprächspartner versteht nicht recht und will die Geschichte entziffern: Ob sie wohl im Kreis angeordnet waren oder die Kette abriss? Solche Fakten kennt die Erinnerung nicht, denn sie ist eine emotionale. Für Chronologien und geometrische Ordnungen der Ereignisse hat sie nichts über, sie ragt hinein in die Utopie.

Der nicht enden wollende Schrei von Robert AA Lowe gilt auch ihm, dem Mann, der das Glück des einen zum Unglück eines anderen erklären wollte. Der Wunsch versichert sich mit Fragmenten des (negativ) Realistischen, eintreten zu können. Ein solches Netz braucht die Utopie nicht. Um an das Glück zu glauben, muss kein Trauma her, das verarbeitet wird, kein kosmisches Gleichgewicht hergestellt und keine Träne vergossen werden, um sich als Zuschauer gestärkt oder geläutert zu fühlen. Russell und Rivers, bekannt für ihre experimentellen Arbeiten, nähern sich in A Spell to Ward Off the Darkness dem urkinematografischen Traum der Gleichzeitigkeit aller Welten, der Verbildlichung des möglichen Unmöglichen. Wo uns die Chronologie das Vertrauen lehrt, da lehrt die Akkumulation die Hoffnung. Sie ist der Grundstein der Freiheit und des Denkens.
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