A Letter to David – Kritik
In A Letter to David erinnert der israelische Regisseur Tom Shoval an das Schicksal seines Freundes David Cunio, der am 7. Oktober 2023 von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurde. Ein Film über eine historische Zäsur und ihre Folgen, der konsequent der Perspektive der Betroffenen verpflichtet ist.

Israel, 2012. Zwei junge Männer stellen sich für eine Videoaufnahme in Positur. Sie sind das, was man im Englischen „identical twins“ nennt. Sie gleichen einander bis aufs Haar. Tom Shovals A Letter to David (Michtav Le'David) eröffnet mit einer ganzen Reihe solcher Bilder: Zwillingsbrüder, die etwas hilflos, mit Namensschildern vor der Brust, für die Kamera lächeln. Es handelt sich um Material, das während des Castings zu Shovals Debütfilm Youth entstanden ist. Bei einem der Brüderpaare schaut und hört A Letter to David etwas genauer hin. „Do you think your connection could ever be broken up?“, fragt der Casting Director die beiden aus dem Off. „No, never“, erwidern sie fast zeitgleich. „You know, people grow up, start their own families…“, hakt der Casting Director weiter nach. „We will never lose touch“, insistieren die Brüder. Ihre Namen: David und Eitan.
Eine Verbindung, die so eng und selbstverständlich ist, dass nur der Tod sie durchtrennen kann – sie steht im Zentrum dieses neuesten und bislang wohl persönlichsten Films von Tom Shoval. A Letter to David erzählt die Geschichte der Zwillingsbrüder David und Eitan Cunio, die am 7. Oktober 2023 im Kibbuz Nir Oz dem Terror der Hamas und ihrer Verbündeten ausgesetzt waren. David wurde zusammen mit seiner Ehefrau Sharon, ihren gemeinsamen Töchtern Yuli und Emma, seinem jüngeren Bruder Ariel und dessen Partnerin Arbel Yehud in den Gazastreifen verschleppt. Eitan gelang es, zusammen mit seiner Familie zu entkommen. Seitdem sind die Brüder getrennt. Während Sharon und die Kinder im Rahmen des ersten Geiselabkommens Ende November 2023 befreit werden konnten, fehlt von David und Ariel, abgesehen von einigen ungesicherten Hinweisen, bis heute jede Spur.
Seit mehr als zehn Jahren verbindet Shoval eine enge Freundschaft mit David und Eitan. Sie spielten die Hauptrollen in seinem Langfilm-Debüt Youth, einem Film über zwei Brüder, die sich entschließen, eine Frau zu entführen, um Geld für ihre vom sozialen Abstieg bedrohte Familie zu erpressen. In A Letter to David lässt Shoval die Entführungsgeschichte aus Youth auf die reale Geiselnahme Davids treffen und zeigt dabei auch, was der 7. Oktober mit seinem Blick auf das (eigene) Kino gemacht hat.
Eine Frage von Leben und Tod

Seine Weltpremiere hatte A Letter to David auf der Berlinale im Februar 2025. Am Eröffnungsabend demonstrierten mehrere namhafte deutsche Schauspieler*innen, darunter auch Festival-Direktorin Tricia Tuttle, vor dem Berlinale-Palast für die sofortige Freilassung Davids und Ariels. Eine Geste, für die sich Shoval ein Jahr zuvor noch vergeblich stark gemacht hatte: Bereits Anfang 2024 hatte der Regisseur versucht, die Berlinale zu einer Solidaritäts-Note für seinen entführten Freund und dessen Bruder zu bewegen. Ohne Erfolg. Die Debattenlage, hieß es, sei zu angespannt. Natürlich habe ihn das irritiert, sagt Shoval in einem Interview. Mit Blick auf die Causa betont er: „It’s not a political thing. It’s a matter of life and death“. Diese Haltung bestimmt auch seinen Film. A Letter to David ist kein „Statement“, keine Aufforderung zur politischen Parteinahme im israelisch-palästinensischen Konflikt, sondern der vorsichtige Versuch, ein Bewusstsein für das Schicksal der Überlebenden des 7. Oktobers, der Geiseln und ihrer Angehörigen, zu schaffen, einen Raum zu eröffnen, in dem ihre Erfahrungen zur Sprache kommen können.
Entführte Bilder
Drei Arten von Bildern versammelt Shoval in seinem Film: eine Auswahl von Szenen aus Youth; Behind-the-Scenes-Material, das während der Dreharbeiten an dem Spielfilm entstanden ist; und eine Reihe von Interviews, die der Regisseur in den Monaten nach dem Anschlag mit Mitgliedern der Cunio-Familie gedreht hat – neben Eitan zählen zu den Interviewten noch Davids Ehefrau Sharon und die Eltern der Brüder, Luis und Sylvia. Bildzeugnisse, die das Massaker direkt dokumentieren, kommen in seinem Film nicht vor. Statt erneut die bekannten Gewaltbilder zu präsentieren, begibt sich Shoval in einen Dialog mit den Betroffenen, zeigt, wie sich die Erfahrung des Anschlags in ihre Gedächtnisse und Alltage eingeschrieben hat.
In einer längeren Szene begleitet der Regisseur Eitan in dessen niedergebranntes Haus in Nir Oz. Beklemmend detailliert beschreibt der Freund, was sich an diesem Ort in den Stunden des Überfalls zugetragen hat, wie er und seine Familie sich erst im Schutzraum verbarrikadiert haben und dann langsam zu ersticken drohten, nachdem die Terroristen das Haus in Brand gesteckt hatten. Kontrastiert werden diese Bilder mit Aufnahmen des Kibbuz von 2012. Parallel zum Dreh von Youth sollten David und Eitan damals ihren Alltag in Nir Oz dokumentieren. Wir sehen die beiden, wie sie durch die Straßen ihres Heimatorts laufen, sich immer wieder scherzend zur Kamera wenden, Nachbarn und Freunde grüßen, beiläufig kleine Veränderungen in der Umgebung kommentieren. Szenen einer für immer verlorenen Normalität. 400 Einwohner*innen zählte der Kibbuz vor dem Überfall, mehr als ein Viertel von ihnen wurde am 7. Oktober 2023 entweder ermordet oder entführt. Einige davon sind in Eitans und Davids Video zu sehen. Im Film werden diese Aufnahmen verlangsamt abgespielt. Kurze Texteinblendungen klären uns über die Identität der Menschen und ihr Schicksal auf: „murdered on October 7“, immer und immer wieder.

Erinnerungen und Bilder, die unter dem Druck des Traumas ihren ursprünglichen Sinn, ihre Unschuld verlieren – dieses Thema begegnet uns mehrfach in Shovals Film. An einer Stelle, in der es ausführlicher um Davids Verschleppung geht, zeigt der Regisseur Ausschnitte aus der Entführungsszene in Youth. Wir sehen, wie David und Eitan eine junge Frau knebeln und mit einer Waffe bedrohen. Die Bilder sind nur schwer zu ertragen. Vor die Filmgewalt schiebt sich immer wieder das Bewusstsein der realen Gewaltsituation, in der sich David befindet. Aus dem Darsteller des Geiselnehmers in Youth ist selbst eine Geisel geworden. „Kidnapped by reality“, kommentiert Shoval diese grausame Ironie aus dem Off.
Aus nächster Nähe
Gegen Ende kehrt der Film noch einmal zu Eitan zurück. Mit hängenden Schultern streift er durch das völlig verwüstete Nir Oz. Ein Schatten seiner selbst – und seines Bruders. Wenn er in den Spiegel blicke, sagt er, sehe er David. Seine beiden Nichten könne er nicht mehr besuchen, weil er sie an ihren Vater erinnere. A Letter to David setzt sich der emotionalen Wucht dieser Erzählungen frontal aus, zeigt den Schmerz und die Verzweiflung seiner Protagonist:innen aus nächster Nähe. Den viel beschworenen Kontext des 7. Oktobers – die Situation der Palästinenser*innen, Israels Krieg gegen die Hamas – lässt der Film außen vor. Nur ein paar Mal hören wir das Donnern der Bomben in Gaza, während Eitan in Nir Oz, auf der anderen Seite der Grenze, um das Leben seiner Brüder bangt. Wie sich das eine zum anderen verhält? Zu dieser Frage schweigt Shovals Film.
A Letter to David ist konsequent der Realität seiner Protagonist:innen verpflichtet ist. Viel Raum für Hoffnung bietet diese Realität nicht. Dennoch oder gerade deshalb verweist Shoval beharrlich auf die Unabgeschlossenheit seiner Geschichte: „It won’t be finished until David returns.“ Bis dahin bleibt A Letter to David ein Fragment, ein Film ohne Schluss, der weiter nach seinem Adressaten sucht.
Neue Kritiken
 
    Monster: Die Geschichte von Ed Gein
 
    Dracula - Die Auferstehung
 
    Frankenstein
 
    Danke für nichts
Trailer zu „A Letter to David“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (6 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.







