Wow-Effekt mit Ansage – Im Cannes-Fieber

Wer nach Cannes fährt, der will beeindruckt werden, so Festivaldirektor Thierry Frémaux. Mit dieser Formel lässt sich manch eine Auswahl-Entscheidung nachvollziehen. Notizen zu Eo und Tchaikovsky’s Wife.

Das Festival von Cannes ist ein Ort absurder, geradezu höfischer Zustände mit einem Kastensystem und tausend Details, die den Besucher*innen kommunizieren, dass sie noch lange nicht zum innersten Kreis gehören, und das vielleicht auch nie werden. Während man sich darüber freuen kann (und vielleicht soll), immerhin dabei zu sein, und darüber, dass andere auf noch niedrigeren Hierarchie-Stufen stehen, gibt es eine verlässliche Größe, die einen regelmäßig davon ablenkt, zu sehr über die hier greifenden Mechanismen nachzudenken: die geteilte Freude über die Filme. Im Gegensatz zu anderen Festivals freut sich das Publikum hier immer wieder lautstark darüber, im Kino zu sitzen, applaudiert bei Festival- und Firmenlogos in Vorspännen der Filme.

Es ist schwierig, die Gemeinsamkeit der Filme jenseits von Plattitüden zusammen zu fassen, thematisch ohnehin nicht, aber auch von Machart und Perspektiven unterscheiden sie sich zu sehr, um Verbindungslinien übers ganze Festival zu zeichnen. Auf meine Frage hin, ob die Auswahl der Filme nicht durchaus gegenderten Codes von Qualität entspricht, und ob er und sein Komitee sich dieser erlernten Meisterwerks-Kriterien bewusst seien, offenbarte Thierry Frémaux bei der Eröffnungs-Pressekonferenz en passant durchaus eine eigene Erwartung, die er aber dem Publikum zuschob: In Cannes wollen wir beeindruckt werden.

Angesichts dieser Formulierung lässt sich vermuten, dass seine Auswahlkriterien das Kino der leiseren Töne, des Hinterfragens und des Ausdifferenzierens zugunsten von Dicke-Hose-Filmen vernachlässigen. Vielleicht ist das ja wirklich ein Grund dafür, warum bestimmte Filme und Filmschaffende es regelmäßig in den Wettbewerb von Cannes schaffen.

Tchaikovsky’s Wife von Kirill Serebrennikov

Kirill Serebrennikov steht in diesem Jahr ein bisschen unglücklich repräsentativ für die dissidenten Künstler Russlands. Einzelne Filme sollten ihre symbolische Kraft besser nie für Strukturen, erst recht nicht als Vertreter für Nationen entfalten müssen. Bei Festivals passiert das ziemlich reflexhaft, wird von „dem Italiener im Wettbewerb“ gesprochen. Auch wenn das bei Tchaikovsky’s Wife nicht im Mittelpunkt steht, ganz absehen kann man nicht davon, dass Serebrennikov und sein Film in ein Netz an Metafragen verstrickt sind.

Die Kurzfassung zur Erinnerung: Der Regisseur wird gleichzeitig von der russischen Justiz verfolgt (bis vor Kurzem stand er unter Hausarrest), seine Filme werden zugleich mit „russischem Geld“ ermöglicht. Was sich dann wiederum mit den komplexen Bedeutungsebenen seines Films überlagert: Tchaikovsky’s Wife übt sich an einer neuen Geschichtsschreibung durch den Fokus auf das Leben nicht des berühmten Künstlers, sondern seiner Frau. Womit auch die in Russland tabuisierte Homosexualität von Tschaikowski aufs Parkett kommt. Denn das Schicksal von Antonina Miliukova ist vor allem das einer vom eigenen Mann nicht begehrten, schnell verstoßenen Frau.

Erzählerisch ist das durchaus eine Herausforderung, weil Serebrennikov sich mehr für das Große als das Kleine interessiert, die Fallhöhe und die Genialität des Künstlers zentral sind, er sich aber zugleich offensichtlich nicht zu sehr mit dem Mann beschäftigen will. Das Ergebnis ist eine ziemlich verworrene filmische Erfahrung, je länger sie andauert, desto konfuser wird sie. Gleichzeitig findet der Regisseur gerade im letzten Drittel immer mehr zu sich. Emotionale Innenwelt und affektgeladene Umgebung führt er zusammen in eine Mischung aus Traumbildern und traumatischer Verstörung, ein Reigen, der die explizit nie diskutierten Fragen auf bildlicher Ebene eindringlicher nicht aufscheinen lassen könnte.

Die Überwältigungsmaschine dieses Kinos steht für eine Idee, die Cannes immer wieder auszeichnet, vor allem im Wettbewerb: dass Filme sich gleichzeitig intellektuell und affektiv in die Geschichte einschreiben. Bei Tchaikovsky’s Wife müsste man freilich noch darüber nachdenken, was der Disclaimer zu Beginn bedeutet, dass der Film aus der Werte-Perspektive von damals erzählt ist (stimmt das überhaupt?), und warum er selbst die Tabuisierung von Homosexualität eher mitbetreibt als hintertreibt.

Eo von Jerzy Skolimowski

Das erste große Ausrufezeichen in Cannes kam schon früh im Wettbewerb mit Jerzy Skolimowskis Eo. Ein komplett durchgeknallter, so facettenreicher wie ästhetisch diverser Film, eher Experiment denn klassischer Spielfilm, dabei gleichzeitig eingängig, aufwühlend, direkt und erzählerisch ausgebufft. Eo heißt der Esel, dessen emotionaler, vor allem physischer Reise der Film folgt. Eo ist auch die lautmalerische englische Übersetzung für das Geräusch, das der Esel macht. Im Deutschen könnte er I-Ah heißen. 

Der Film des 84-jährigen Regisseurs, der zuletzt bei uns Anfang der 2010er mit Essential Killing zu sehen war, hat sich unter Cinephilen an der Croisette schnell als Empfehlung herumgesprochen, sicherlich auch, weil er viele Marker setzt, die bei einem Festival für erhöhte Aufmerksamkeit sorgen: Nicht ein Mensch steht im Mittelpunkt, sondern ein Tier (erinnere Cow, erinnere Gunda); formale Mittel sind nicht eindeutig, sondern vieldeutig zu lesen; die sensorische Erfahrung wird von den ersten, traumhaften Zirkusbildern an angesprochen; der Film hat ein dringliches Anliegen (zu hinterfragen, was Menschen mit Tieren machen) und vermittelt dieses zugleich mit Pathos, mit Humor und ständiger inszenatorischer Überraschung. 

Die Geschichte ist Nebensache und wird immer wieder eingefangen, vor allem affektiv. Denn der Esel, der ganz am Anfang noch einen Auftritt im Zirkus hat, wird nach schnell zitierten Protesten gegen diese Form von Tiermisshandlung von seiner Trainerin und Mitperformerin getrennt. Im Verlauf seiner damit beginnenden Reise von einer Abschiebestation zur nächsten erzählt Skolimowski mit einer Vielzahl an Perspektiven und Stilen davon, in welche Verhältnisse Eo hineingedrängt wird. Episodenhaft tauchen Menschen auf, die sich ihm annehmen oder ihn aus der Gefangenschaft befreien. 

Doch während immer wieder kleine Gesellschaftsminiaturen aufscheinen, reflektiert der Film vor allem unseren Drang, Kamerabilder an menschliche Subjektivität zurückzubinden. Ohne zu behaupten, dass er der Subjektivität des Esels filmisch entsprechen könne, dekonstruiert Eo doch Mal um Mal alle anderen Perspektiven, um zwischendurch in hypnotischen Traumbildern zu kulminieren. Eindrücklich klar, beeindruckend, auch. Vielleicht ist das Festival von Cannes doch einer Formel auf der Spur.

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