Von Geehrten und Gewinnern – Im Locarno-Fieber
Genre-Pastiche, Alt-Right-Fantasie und ein Bürgerkrieg ausgerechnet in der Schweiz. Eindrücke zu Preisträger*innen des 74. Filmfestivals von Locarno.
Goldener Leopard
Vengeance Is Mine, All Others Pay Cash
(Seperti Dendam, Rindu Harus Dibayar Tuntas)
Regie: Edwin

Pubertär im Humor und gleichzeitig weise, sanft und liebevoll in der Herangehensweise. Edwins Genre-Pastiche erzählt von einem Tunichtgut, der nichts lieber macht, als Kämpfe anzuzetteln und den vom Glück vor allem eines trennt: Er kann keine Erektion kriegen. Der Film mit dem schön überbordenden Titel erforscht unterschiedliche Stränge des Kinos und Befindlichkeiten seiner Figuren: darunter Gangster- und Western-Imitationen der 1970er und 1980er Jahre, Männlichkeitsklischees wie in Teenie- und College-Komödien und last but not least Fragen nach Gerechtigkeit und politischen Prozessen in Indonesien. Im Kern der komödiantischen Arrangements steht eine dramatische Liebesgeschichte, bei der die Frau keine geringe Rolle spielt, und auch sie ist eine ausgezeichnete Kämpferin.
Beste Regie
Abel Ferrara
Zeros and Ones

Vielleicht ist es manchmal ganz gut, im ersten Schritt sich selbst und im zweiten Schritt anderen gegenüber einzugestehen, dass man nicht mehr weiter weiß, dass man durcheinander ist, dass die Ratio nicht mithält. Abel Ferrara hat seinem neuesten Film einen Clip vorangestellt, in dem Ethan Hawke dafür wirbt, Ferrara zu vertrauen, denn er tue es schließlich auch. Am Schluss des Films, ganz am Ende des Abspanns spricht er nochmal und verrät, wie wenig er selbst vom Drehbuch verstanden habe, bevor er den Film sah. Es wird kein Geheimnis bleiben, dass Zeros and Ones selbst nicht allzu viel dafür tut, durchblickt zu werden. Nur mit dem Meta-Kommentar lässt sich das ihm zugutehalten, denn neben Altherrenfantasien mit eher wenig Selbstironie steckt in dem Militär-Verschwörungs-Drama etwas Zielloses und Konfuses, das keine Kurve kriegt. Natürlich kann und muss man wie immer davon ausgehen, dass alles Absicht ist, nicht zuletzt die absurd hässlichen Bilder des begnadeten Kameramanns Sean Price Williams. Aber. Vielleicht ist der Film ja eine Skizze, die aufzeichnet, wo die Alt-Right-Bilder im Jahr 2021 so hinwabern?
Beste Schauspielerin
Anastasiya Krasovskaya
Gerda
Regie: Natalya Kudryashova

Anastasiya Krasovskaya hält zusammen, was nicht zusammenzuhalten ist: Gerda ist ein Film der Schichten, die aufeinandergestapelt werden. Sie spielt eine junge, beinahe burschikose Frau, die im Stripclub auf mächtig Eifersucht trifft und zu Hause ihre Mutter pflegt, die von Angstvisionen, Albträumen und anderen Dämonen heimgesucht zu werden scheint. Für ihr Soziologiestudium zieht sie durch Plattenbausiedlungen wie ihre eigene, um Menschen zu ihrem Leben und ihrem Verhältnis zu Russland zu befragen. Komisch-absurd-trauriger Sozialrealismus wechselt sich mit Melodrama und Gesellschaftssatire ab. Ästhetisch immer wieder an Überwältigung interessiert, mit Anspielungen auf ein mir leider unbekanntes Märchen, unausgegoren, aber auch beeindruckend.
Bester Schauspieler
Mohamed Mellali und Valero Escolar
The Odd-Job Men (Sis dies corrents)
Regie: Neus Ballús

Schauspieler*innen könnte es sauer aufstoßen: Die beiden Hauptdarsteller in Neus Ballús’ The Odd-Job Men, die nun mit dem Preis als bester Schauspieler ausgezeichnet werden, sind Laien. Wobei der Begriff nicht unstrittig ist, schließlich sind sie spätestens nach dem Film keine Laien mehr: In der spanischen Komödie spielen Mohamed Mellali und Valero Escolar Variationen ihrer selbst und nutzen ihre eigenen Namen. Die beiden Männer treffen als Aushilfshandwerker aufeinander, der eine alteingesessen, der andere auf Probe für eine Woche. Natürlich kann der eine den anderen nicht leiden. Der Humor, den Neus Ballús lakonisch beschwört, ist einer der kleinen Ungeschicke und Konflikte sowie alltäglicher Absurditäten. Gleichzeitig humanistisch und frei schwebend, mit der genau richtigen Menge Sentimentalität.
Lobende Erwähnung
Soul of a Beast
Regie: Lorenz Merz, Switzerland

Eine absolute Überraschung für mich war Soul of a Beast. Um die eigenen Vorurteile/Vorerfahrungen ganz offen zu legen: In Locarno habe ich oft erlebt, dass es besser ist, Filme aus der Schweiz zu meiden. Umso größer war meine Neugier, als dieser Film von unterschiedlichen Seiten als Empfehlung an mich herangetragen wurde. Tatsächlich sieht man Soul of a Beast an, dass es das Werk eines (u.a.) Kameramanns ist, der sich viele Gedanken darüber gemacht hat, wie Zürich aussehen soll. Die Stadt ist kaum wiederzuerkennen. Vor allem aber erzählt Merz von einem (späten) Coming of Age, einer Phase nach dem ersten, offiziellen Erwachsenwerden, wenn es darum geht, sich zwischen Freiheit und Verantwortung zu entscheiden. Das ist sehr anschaulich und einnehmend: Fieberhafte Abenteuer im Großstadtdschungel vermischen Drogenerlebnisse, natural highs durch Adrenalin und Verliebtsein mit bitterer Wirklichkeit. Wie schnell könnte es in der Schweiz zu einem Bürgerkrieg kommen?
Lobende Erwähnung
Espíritu Sagrado
Regie: Chema García Ibarra

Erstmal bin ich baff. Wie hier Szene um Szene das Mittel von Schuss-Gegenschuss (eine Einstellung antwortet auf die andere quasi als Blickwechsel) hyperklassisch und gleichzeitig doch sehr eigen umgesetzt wird. Die Blick-Konstellationen sind mal komisch unpassend, mal eindringlich, mal voller Suspense in dieser nicht leicht klassifizierbaren, komödiantischen, dramatischen Sci-Fi-Esoterik-Milieustudie. Die Figuren sind eher Typen, markante Gesichter, die meistens eher wenig spielen, aber auch nicht nicht spielen. Auch die Geschichte ist erstmal recht klassisch: Ein Zwillingsmädchen ist verschwunden, vermutlich gekidnappt. Die Mutter sucht Hilfe. Doch der Film nimmt keine übliche Route der Suche, der Trauer oder der Wut, obwohl es auch um Klassenfragen geht. Ihr Bruder ist Teil einer Ufo-Glaubensgemeinschaft. Ihre Mutter war mal Hellseherin, jetzt hat sie Alzheimer und sagt nichts mehr. So geht es weiter, in diesem eigensinnig strukturierten, vor allem rhythmisch widersprüchlichen, mal sehr ökonomischen, mal verschwenderischen Werk.









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