Verrutschte Wahrnehmung – Im Berlinale-Fieber

Erste Eindrücke von Filmen der Berlinale: Heute zu Pferden, Clubkids, Grachten und malerischen Text-Bild-Scheren in Filmen von Moyra Davey und Fiona Tan.

Nach ein paar Tagen Kinomarathon kann einem die Wahrnehmung schon etwas verrutschen. Man schaut auf die Leinwand und hat plötzlich das Gefühl, Ton- und Bildspur sind durcheinandergeraten, verschiedene digitale Projektionen haben sich vermischt. Oder sind Text-Bild-Scheren jetzt das neue Ding? Bei der Vorführung von Horse Opera von Moyra Davey im Forum gab es die ersten zehn Minuten gar keinen Ton zu den Bildern pinkelnder Pferde, Close-ups von zuckenden Mähnen und wippenden Schweifen, malerisch durch Lochblenden gefilmt. Das Publikum nahm’s schweigend hin.

Meditative Monotonie

Bis die Projektion stoppte: Sorry, technischer Fehler. Also nochmal von vorne – diesmal mit Sound. Die Frauenstimme aus dem Off erzählt aber nichts über Pferde, sondern von Clubkids in New York: wie sie sich auf die nächtliche Party einstimmen, welche Drogen sie brauchen, wann der richtige Zeitpunkt ist, im Club aufzuschlagen, welche Musik läuft, wie sich die Leute stylen, wie sie tanzen, wie sich alles zu einem orgiastischen Gemeinschaftsrausch aufbaut. Und wie schwer es ist, morgens wieder runterzukommen. Der monotone Singsang, mit dem die kanadische Fotografin, Autorin und Videokünstlerin Davey die tagebuchartigen Texte vorträgt, ist zunächst irritierend, erzeugt nach einer Weile aber einen meditativen Vibe. Davey beschreibt eine besondere Facette der New Yorker Club-Kultur: die Loft-Partys von David Mancuso, einem DJ und Soundtüftler, der in den 1980er und 1990er Jahren nicht-kommerzielle, LGBQ+-freundliche Deep House Partys in Soho organisierte, zu denen die Eingeweihten pilgerten wie zur Heiligen Messe.

Während Daveys Monolog langsam vom Dancefloor zum Ausgang floatet – sie will mit 50 Schluss machen mit den Partys – galoppieren die Pferde im Gegenlicht über die Weide. Wir sehen im Morgendunst Rehe am Waldrand, zitternde Spinnennetze, ein goldenes Gräsermeer. Das ist ein bisschen kitschig, aber irgendwie auch schön. Man denkt an den amerikanischen Aussteiger-Philosophen Henry David Thoreau, der seine Ekstasen am unberührten Walden Pond fand. In Horse Opera sind Tiere und Natur nun Stand-ins für die Weltflucht der Party People. Im Lauf des Films tritt Moyra Davey auch selbst in ihrem Film auf, als Reflexion im Spiegel, als Schattenfigur im Hintergrund, während die Kamera das Interior eines Farmhauses abtastet. Den Rest reimen wir uns so zusammen: Getreu dem Loft-Motto „Love Saves the Day“ hat die Erzählerin die Party-Schuhe gegen Reitstiefel eintauscht und holt sich ihre Liebe jetzt auf dem Rücken der Pferde.

Vater-Ehrung und Heimatkunde

Pferde – und Hunde und Kühe – kommen auch in Fiona Tans Essayfilm Dearest Fiona vor. Und auch in diesem Werk wollen Text- und Bildebene zunächst nicht zusammenpassen. Die niederländische Künstlerin mit indonesischen Wurzeln hat aus Filmarchiven historisches Material zum Arbeitsalltag in Holland um 1900 zusammengetragen: Clips von Muschelfischern, Hafenarbeitern, Stahlkochern, der Tulpenernte, Frauen beim Wollespinnen, Windmühlen und Schlittschuhläufer auf zugefrorenen Grachten. Alles in kontrastreichem Schwarz-Weiß, manches nachträglich koloriert, rhythmisch geschnitten zur Narration aus dem Off.

Dort liest eine Männerstimme mit schottischem Akzent Briefe vor. Die stammen von Tans Vater, von dem die Regisseurin während ihres Studiums in den 1980er Jahren in Amsterdam regelmäßig Post bekam. Papa berichtet vom Alltag der Familie in Australien, von den Hunden und Katzen zuhause, er kommentiert die Welt- und die Wetterlage. Es sind persönliche, feinfühlige Texte, die im scharfen Kontrast zum Found Footage zu stehen scheinen. Allmählich öffnet sich jedoch ein Resonanzraum, etwa wenn der Vater schreibt, was er als Schulkind in Jakarta alles über die Niederlande lernen musste – Indonesien war damals noch holländische Kolonie –, und dann in einer Straßenszene kurz eine Gruppe Schwarzer Hafenarbeiter auftaucht. Man fragt sich unwillkürlich: Warum sind da nicht mehr? Und war den Holland-Mädchen in ihren blütenweißen Hauben eigentlich klar, dass ihr Wohlstand mit der Ausbeutung in den Kolonien erkauft wurde?

Doch auch wenn Dearest Fiona solche Fragen streift, ist es kein dogmatisches Manifest geworden. Wenn überhaupt, dann zeigt der Film, wie komplex und verwoben migrantische Biografien in unserer globalisierten, postkolonialen Welt heute sind. Als Experiment zwischen Vater-Ehrung und Heimatkunde im Mutterland ist Fiona Tans Film sehr gelungen.

Kommentare zu „Verrutschte Wahrnehmung – Im Berlinale-Fieber “


Nils

Freut mich sehr auch was über Filme auf der B. zu erfahren, die in der Main Press nicht erwähnt werden. Weiter so....






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