Strenge Moderne und diffuse Gefühle: Unknown Pleasures #9

Flicken statt Teppich: Vom 12. bis 28. Januar findet bereits die neunte Ausgabe des schön eigenwilligen US-Independent-Festivals „Unknown Pleasures“ statt. Das Programm lädt auch dieses Jahr dazu ein, gesellschaftliche Generalanalysen links liegen zu lassen und lieber mal heranzuzoomen.

Florida Project

Vergessen wir mal Trump und nukleare Bedrohungen für einen Moment, die großen Diagnosen zum US-amerikanischen Status quo, die scheinbar so urplötzliche Störung des Dornröschenschlafs vor gut einem Jahr, die deshalb etwas eingeschnappten Versöhnungsbefehle des liberalen Hollywoods und natürlich auch die Frage, ob Oprah nun kandidieren wird oder nicht. Zoomen wir mal lieber heran. Die USA sind keine in der globalisierten Welt herumwirkende black box, sondern ein feinmaschiges Netz, und wollen wir ihre Gegenwart verstehen, tun wir gut daran, sie nicht als Ganzes fassen zu wollen, sondern uns an konkrete Orte zu begeben, die Textur der einzelnen Flicken zu erfassen, aus denen wir dann den berühmten Teppich stricken, die kleinen Bilder anzusehen, die wir dann wieder einzufügen versuchen in unser großes Bild von diesem „Amerika“.

Das Globale, das Konkrete, das Abstrakte

Tonsler Park 1

Das Festival „Unknown Pleasures“, das vom 12. bis 28. Januar zum neunten Mal in Berlin stattfindet, bietet nicht nur einen Einblick in US-amerikanisches Filmschaffen von den Rändern, sondern ist auch ein hervorragender Ort für ein solches Heranzoomen. Und Tonsler Park ist ein Paradebeispiel für diese Operation, beobachtet dieser experimentelle Dokumentarfilm doch ein so schwer fassbares weltgeschichtliches Großereignis, nämlich die Präsidentschaftswahl im November 2016, nicht thesenwütig und mit analytischer Distanz, sondern aus nächster Nähe und in seiner konkretesten Ausgestaltung: als körperliche Praxis. Menschen werden im Wahllokal empfangen, Stimmzettel werden ausgehändigt, Kreuze werden gemacht, Letzteres freilich außerhalb des Bildkaders.

Tonsler Park 2

Einen ganzen Wahltag lang hat der afroamerikanische Künstler und Filmemacher Kevin Jerome Everson in vier Wahlbezirken in Charlottesville, Virginia seine 16mm-Kamera aufgestellt, meist statisch auf die ausschließlich schwarzen Wahlhelferinnen und Aufpasser gerichtet, die, derart geduldig ausgestellt, zu bewegten Skulpturen werden. Und wenn sich dann die Kunden der Demokratie den Service-Schreibtischen nähern, dann schieben sie sich zwischen uns und Eversons Protagonisten, dann verschwindet das Gesicht, an das wir uns gerade gewöhnt haben, schon mal für ein paar Minuten aus dem Bild, und was bleibt, sind abstrakte Schwarz-Weiß-Flächen; das große Ereignis endgültig in reiner Bewegung aufgelöst, nicht mal mehr menschliche Agenten scheinen hier Geschichte zu machen, sondern nur noch Formen. Man verschwindet in diesen Flächen, die sich nur schwer beschreiben lassen, und wird so zurückgeworfen auf jene Beschreibung, die keinen Referenzpunkt im Bild selbst hat, in der merkwürdigen Logik nationalstaatlicher Demokratien aber eben doch zutrifft: Hier wird gerade Donald Trump gewählt.

Strenge Moderne und diffuse Gefühle

Columbus

Also lieber weiterreisen, nach Indiana, genauer gesagt nach Columbus, so heißt der erste Spielfilm von Kogonada, der sich bislang vor allem mit seinen filmwissenschaftlichen Video-Essays einen Namen gemacht hat. Die Kleinstadt mit hoher Konzentration an moderner Architektur ist hier Setting für die behutsame Annäherung zwischen der charmant-klugen Teenagerin Casey, die sich von ihrer labilen Mutter mit Meth-Vergangenheit nur zu gern einen Strich durch die eher von außen an sie herangetragenen Uni-Ambitionen machen lässt, und dem deutlich älteren Übersetzer Jin, der in der Stadt gelandet ist, weil sein Vater im örtlichen Krankenhaus im Koma liegt und ihm damit einen unfreiwilligeren Strich durch seine Pläne macht. Zwischen strenger Moderne und diffusen Gefühlslagen schält sich dieser geduldige Film also heraus, und diese Reibung übersetzt Kogonada in herrlich symmetrische Establishing Shots, in die die Figuren dann oft einfach reinlaufen, um ihre eigenen Geschichten zu etablieren, und der Establishing Shot verschwindet, ganz ohne Schnitt. Columbus ist so souverän und schön zugleich, dass man fast skeptisch werden könnte, ob er es sich mit seinen tollen Bildern und tollen Menschen nicht zu einfach macht, aber doch gibt der Film mir immer wieder ein anderes Gefühl: dass es angebracht und aufrichtig ist, seinem Charme zu erliegen.

Das Universum und Co(ne)

Voyage of Time

Zu den nominalen Highlights des auch in diesem Jahr von Hannes Brühwiler zusammengestellten Programms dürfte vor allem ein Film zählen: Niemand Geringeres als Terrence Malick ist schließlich mit seinem epischen Voyage of Time: Life’s Journey vertreten, ein Dokumentarfilm über … nun ja, die Geschichte der Existenz. Solche, die einst auf die Dino-Exkursion in Tree of Life weniger klarkamen, könnten dieses Projekt eher meiden wollen, solche, die schon immer davon geträumt haben, mal mit Cate Blanchetts Stimme durch Raum und Zeit zu reisen, könnten diesen Film unbedingt sehen wollen. Als Special Screening ist eine Hommage an den im letzten Jahr verstorbenen Jonathan Demme geplant, es läuft sein spannender Dokumentarfilm Cousin Bobby (1992). Außerdem ist Sean Bakers zuletzt in Cannes gefeiertes Florida Project, das im März auch regulär in den deutschen Kinos starten wird, ebenso zu sehen wie Beach Rats, der neue Film von Eliza Hittman, die wir im vergangenen Herbst auf dem Filmfest Hamburg interviewt haben.

Princess Cyd

Als Eröffnungsfilm stellt der bereits beim letzten Mal mit Henry Gamble’s Birthday Party vertretene und noch immer viel zu unbekannte Stephen Cone seinen neuen Film Princess Cyd vor, mit dem der Regisseur sein natürliches Habitat der suburbanen, evangelikal geprägten Südstaaten in Richtung Chicago verlässt. Als Zugabe zeigt das Festival zwei frühere Filme Cones (wie die Eröffnung mit Princess Cyd jeweils in Anwesenheit des Regisseurs), neben Black Box (2013) auch den herzzerreißenden Coming-of-Age-Film The Wise Kids (2011), in dem Jugendliche an Gott glauben oder vom Glauben abfallen, ein Pfarrer einen romantischen Vorstoß wagt und man sich zur Not halt betrinkt, um wieder ein bisschen mehr gegenseitiges Verständnis zu ernten.

Ein Stammgast kehrt zurück

Did You Wonder Who Fired The Gun

Cone ist nicht der einzige Rückkehrer zu „Unknown Pleasures“, auch Stammgast Travis Wilkerson, dessen eigenwilligem Agitprop-Kino das Festival in seiner sechsten Ausgabe 2014 eine kleine Werkschau widmete, ist mit seinem neuen Film Did You Wonder Who Fired the Gun? Teil des diesjährigen Programms. Wie seine meisten anderen Filme fordert auch Wilkersons neuestes Werk immer wieder Widerspruch heraus, scheint sich manchmal in allzu einfache Thesen zu verstricken, die der Komplexität des Sujets nicht ganz gerecht werden. Auf der anderen Seite ist dieser radikal subjektive und emphatisch voreingenommene Ansatz eben auch die Stärke seines Kinos, zumal Did You Wonder Who Fired the Gun? vorsichtiger ist als andere Teile seines Oeuvres. Wilkerson geht der Geschichte seines Großvaters nach, der im Alabama der 1940er Jahre in seinem Laden einen Schwarzen erschoss und niemals dafür verurteilt wurde. Durch die Kreuzung von innerfamiliärer Skandalisierung und einem Bewusstsein für die Alltäglichkeit dieser Fälle (sowie der Fortführung ihrer Logik bis in die Gegenwart) entsteht in den stärksten Momenten des Films ein atmosphärisch düster-pessimistisches, im Gestus aber kämpferisches Stück Kino, das von den eigenen Zuspitzungen zwar manchmal arg fasziniert scheint, die Selbstreflexion aber doch stets über bloße Betroffenheit hinaustreibt. Als Wilkerson nach langen Recherchen schließlich zumindest den Friedhof ausfindig gemacht hat, auf dem das Opfer seines Großvaters wohl einst anonym begraben wurde, rückt ein bitteres Voice-over die Familienverhältnisse ins rechte Licht: „Two families. One is the family of the murdered, and one is the family of the murderer. One of them is black, one of them is white. One of them is buried in an unmarked grave, and one of them is filming it.”

Neu beginnen

Wilkersons filmischer Essay könnte also nicht weiter entfernt sein von Eversons Wahllokal-Porträt in Tonsler Park, in dem das Voice-over völlig fehlt und entsprechend nach innen in den Zuschauerkörper verlagert wird. Erst dort wird die weltgeschichtliche Bedeutung des Gesehenen produziert, erst dort konstruieren wir die Relevanz eines Films, der eigentlich nur als eine weitere Episode in Eversons künstlerischer Bestandsaufnahme afroamerikanischen Alltags gedacht war. Wir sehen da also in die Bilder etwas hinein, was nicht in ihnen stattfindet, wir stricken schon am Teppich, wo wir noch bei den Flicken bleiben könnten, wir machen aus dem Netz schon ein Werk. Es gehört zu den Tugenden von Tonsler Park, und von einem Festival wie „Unknown Pleasures“ insgesamt, dass er diese notwendig stattfindende Rezeptionsbewegung als Konstruktionsleistung sichtbar werden lässt. Dass er reinzoomt und uns zugleich beim Rauszoomen zusieht.

Das Unknown Pleasures Festival findet vom 12. bis 28. Januar im Kino Arsenal und im Kino Wolf statt. Das komplette Programm gibt es hier.

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