Jedem sein Shangri-La

Eine Apfelverkäuferin als edle Dame, Propaganda gegen die Nazis, eine Notlandung im Himalaya: Das Arsenal widmet Frank Capra, dem vielleicht amerikanischsten aller Regisseure, eine ausführliche Retrospektive – und bewegt sich dabei mit großem Vergnügen auch abseits der großen Klassiker.

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Der Ozean, den im Jahre 1903 ein fünfjähriger Junge aus Sizilien überquerte, spielt eine zentrale Rolle in jenem Film, den dieser Junge zwanzig Jahre später inszenierte. Für die alte Annie aus Lady for a Day, die auf den Straßen Manhattans Äpfel verkauft und deshalb von allen „Apple Annie“ genannt wird, ist der Atlantik zunächst viel zu groß und dann viel zu klein. Ihre Tochter Louise lebt drüben in Barcelona, und nichts scheint sich Annie sehnlicher zu wünschen, als sie einmal wieder in ihre Arme zu schließen. Als Louise sich mitsamt ihrem Verlobten und dessen Vater, einem spanischen Grafen, tatsächlich ankündigt, ist Annie aber erst recht am Boden zerstört. Denn sie hat ihrer Tochter über die weite Distanz ein ganz anderes Leben vorgelogen, von ihrer Residenz in einem Luxushotel erzählt, und von ihrem Ehemann, einem Ehrenmann. Angesichts der nun nahenden Enttarnung als Straßenverkäuferin will Annie nicht mehr leben, vergräbt sich in ihrem bescheidenen Apartment und säuft Gin.

Die Welt steht Kopf

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Frank Capra jedoch, dieser große Regisseur der kleinen Leute und guten Taten, greift seiner Protagonistin unter die Arme, mittels einer Gangster-Figur namens Dave the Dude, die als Stammkunde von Apple Annie keine Mühen scheut, aus der armen alten Frau eine lady of class zu machen. Annie bekommt ein aufwändiges Makeover verpasst (diese modische Kurzvariante des amerikanischen Traums, für den Capra wie vielleicht kein zweiter Filmemacher steht), einen Gatten zur Seite gestellt, und als der Besuch aus Europa endlich da ist, springen Annies Bettler-Kollegen als respektable Besucher eines Empfangs ein. In Capras Filmen, vor allen in seinen frühen, durch die Erfahrung der Großen Depression geprägten, steht die Welt gern mal Kopf. Lady for a Day ist ein persönlicher Lieblingsfilm des Regisseurs, und er ist nur einer von vielen weniger bekannten Werken, die das Arsenal ab dem 8. Dezember in einer umfangreichen Retrospektive vorführen wird.

Warum wir kämpfen

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Freilich werden auch Capras berühmtere Filme zu sehen sein, der zauberhafte It Happened One Night (1934) ebenso wie die einflussreiche Polit-Satire Mr. Smith Goes to Washington (1939). Und der seinerzeit wenig erfolgreiche, später zum Weihnachts-Klassiker mutierte It’s a Wonderful Life (1946) läuft naturgemäß am 25. Dezember. Spannend aber sind vor allem die Ausflüge in unbekanntere Gefilde: die Filme vor dem großen Erfolg von It Happened One Night etwa, das noch stumme Langfilmdebüt The Strong Man (1926) oder der im Post-Depression-Bankwesen angesiedelte American Madness (1932); aber auch die zwei späten Farbfilme, A Hole in the Head (1959) mit Frank Sinatra sowie Capras letzter Film Pocketful of Miracles (1961), ein Remake von Lady for a Day. Ebenfalls in die Retrospektive aufgenommen wurden einige Episoden aus der siebenteiligen Propagandafilme-Reihe Why We Fight, die Capra während des Zweiten Weltkriegs für das US-Kriegsministerium nicht zuletzt als Antwort auf Leni Riefenstahls Triumph des Willens (1935) produzierte – einen Film, der ihn spontan fasziniert und nachhaltig verstört hatte.

Jedem sein Shangri-La

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Annie steht am Ende von Lady for a Day am Hafen, winkt dem Schiff nach, das ihre Tochter zurück nach Europa bringt, und weiß, dass sie am nächsten Tag wieder Äpfel verkaufen wird. So groß sein Herz für die kleinen Leute auch war, ein Rebell war Capra nicht. „Liberty and equality“ waren ihm keine sich potenziell widersprechende, sondern bloß zu realisierende Ideale. Capras Fluchtpunkt ist nicht das Chaos, in das er seine Figuren mitunter stürzt, sondern der Glaube an die Menschlichkeit, die es wieder ins Gleichgewicht bringt. Einer seiner kühnsten und faszinierendsten Filme befasst sich mit dieser Frage dann doch mal auf einer gesellschaftlichen Ebene, bezeichnenderweise im Modus der Utopie. Im Quasi-Blockbuster Lost Horizon (1937) notlandet ein Flugzeug mit dem designierten britischen Außenminister Robert Conway mitten im Himalaya. Während seine Begleiter, so schnell es geht, in die Zivilisation zurückwollen, lässt sich Conway von dem sorgenfreien, harmonischen Leben im von der Außenwelt völlig abgeschnittenen Shangri-La verführen. Lost Horizon ist eine pazifistische Aussteigerfantasie aus einer Zeit, in der die Welt auf die Katastrophe zusteuert. „Here’s my hope that we all find our Shangri-La“, das ist das Schlusswort als Toast, Capras Version des pursuit of happiness, vorgetragen mit der Überzeugung, dass dies möglich ist, und vielleicht nirgendwo eher als in dem Land, das er als fünfjähriger Sohn eines sizilianischen Obstpflückers betrat, um zu einem seiner wichtigsten Filmemacher zu werden.

Auf den Rausch der Utopie folgt der Kater. „Maybe there really wasn’t an America, it was only Frank Capra“, hat John Cassavetes einst geahnt. Was nicht dagegen spricht, sich diesem Rausch mal wieder hinzugeben.

Die Retrospektive zu Frank Capra läuft vom 8. Dezember 2016 bis zum 20. Januar 2017. Das gesamte Programm gibt es hier. Los geht es am 8. Dezember mit einer Einführung von Gary Vanisian und Capras Theateradaption You Can’t Take It With You (1938).

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