Protokolle des Sozialen: Unknown Pleasures #10

Jede Menge Bilder gegen alternative Fakten: Die zehnte Ausgabe von Unknown Pleasures verschiebt den Blick in die Provinz – und leistet vehement Widerstand gegen Amerikaklischees und die Sundancisierung des US-Independentkinos.

Eine Szene wie aus dem Jenseits: Da soll ein Mitglied der Freimaurer für seine langjährigen Dienste geehrt werden, und wie das so ist bei den Ritualen einer eingeschworenen Gemeinschaft, gibt es ein strenges Protokoll. Da verliest ein steinalter Mann den Grund für das Beisammensein, ein anderer erklärt, welcher wieder andere steinalte Mann den nun folgenden Tagesordnungspunkt leiten wird, bevor dem Geehrten mit todernsten Gesten diverse Objekte der Anerkennung überreicht werden. Alte, weiße Männer stehen da in einem trostlosen Klubhaus und vergewissern sich gegenseitig, dass da eine Ordnung noch funktioniert, wenigstens für die Länge eines wohlgeübten Rituals.

Die Sequenz ist Teil von Frederick Wisemans neuestem Film Monrovia, Indiana, der in gewohnter Manier einen präzisen Blick auf die Protokolle des Sozialen erlaubt. Nach seinen tollen Großstadtfilmen In Jackson Heights (2015) und Ex Libris: New York Public Library (2017) ist sein neuestes Werk ein spannender Kontrapunkt zum Gewimmel und Gewusel New Yorks. In Jackson Heights debattierte man über die Folgen von Gentrifizierung und das Zusammenleben unterschiedlichster Communitys in einem Ort, an dem 167 verschiedene Sprachen gesprochen werden. In Monrovia, Indiana wird in einem Meeting darüber entschieden, ob eine zweite Parkbank vor die Bibliothek gestellt werden soll oder nicht.

Beyond Trumptown

Zum 10jährigen Jubiläum verschiebt auch das Unknown Pleasures Festival insgesamt den Blick weg vom städtischen und hin zum ländlichen und kleinstädtischen Amerika. Gutes Timing, schließlich entzündete sich im Zuge der Affäre Relotius gerade erst eine Debatte darüber, wie einfach sich alternative Fakten über eine “typische amerikanische Kleinstadt” erfinden lassen, wenn diese den Erwartungen der deutschen Leserschaft an Trumptown entsprechen. Zum derzeit viel geschmähten „Kopfkino“-Stil der distanzlosen Print-Reportage bildet das Kino, wie es sich im Unknown-Pleasures-Programm zeigt, ein passendes Gegengift. Das Festival vereint in der Regel schließlich Filme, die sich ihres Filmseins, der Möglichkeiten und Grenzen des Mediums, sehr bewusst sind. Noch wichtiger als die Frage, welchen gesellschaftlichen Gruppen wir unsere Aufmerksamkeit widmen, ist schließlich die nach der Art und Weise, auf die wir das tun.

Ganz eigene Rhythmen

Neben Wisemans neuem Film dürfte ein weiteres Highlight der Jubiläumsausgabe die Berlin-Premiere von Paul Schraders First Reformed sein, der bereits auf dem Filmfest München zu sehen war und jüngst auf beachtlich vielen Jahresbestlisten der internationalen Filmkritik auftauchte. Patrick Wang, mit The Grief of Others vor zwei Jahren eine der aufregendsten Entdeckungen der letzten Unknown-Pleasures-Ausgaben, kehrt mit einem Mammutprojekt zurück. In den zwei jeweils zweistündigen Teilen seines A Bread Factory geht es um ein alternatives Kulturzentrum in einer fiktiven Kleinstadt, um Konzeptkunst und Opern, um Startup-Hipster und griechische Tragödien. Und auch der Gewinner des letztjährigen Sundance Grand Jury Prize Awards The Miseducation of Cameron Post über ein katholisches Umerziehungscamp für gleichgeschlechtlich Begehrende ist Teil des wie immer von Hannes Brühwiler kuratierten Programms.

An den Rändern gibt es nicht nur zwei Klassiker der 1990er zu sehen – Whit Stillmans The Last Days of Disco (1998) und John Sayles’ Lone Star (1996) –, sondern auch allerlei Filme, die mit dem mittlerweile institutionalisierten Independent-Label wenig zu tun haben. In The Pain of Others hat Penny Lane YouTube-Videos zusammengestellt von Menschen, die unter der mysteriösen Krankheit Morgellons leiden und davon überzeugt sind, dass unter ihrer Haut Insekten leben und an der Hautoberfläche sichtbare Fasern absondern. Shevaun Mizrahi wiederum beobachtet in Distant Constellation das Treiben in einem Istanbuler Altersheim und hört seinen Insassen zu. Ob es die Selbsthilfe-Videos auf YouTube sind, oder die manchmal wie in Zeitlupe ablaufenden Erzählungen der Zeitzeugen des letzten Jahrhunderts: Unabhängiges Filmschaffen heißt hier nicht, den neuesten heißen Scheiß vorgesetzt zu bekommen, sondern sich auf eigene Rhythmen einzulassen, dem Bewegtbild in unterschiedlichste Register zu folgen.

Eine selbstvergessene Frau

Eröffnet wird das Festival übrigens von einem weiteren wundervollen Film: dem Spielfilmdebüt des Filmkritikers und Dokumentarfilmers Kent Jones. In Diane spielt Mary Kay Place eine Frau, die vor lauter Sorge um Freunde und Verwandte vergisst, an sich selbst zu denken. Jones erklärt uns das nicht, sondern überlässt die Sache ganz seiner Hauptdarstellerin. Selbst die dramatische Drogensucht des Sohnes ist nur in dem Maße Konflikt des Films, wie sie für Diane am Tisch bei Freunden zu unangenehmen Fragen führt. Diane bleibt ganz bei seiner Protagonistin, und gerade deshalb offen für solidarische Verkettungen. Als es einmal nicht mehr anders geht als sich in der Spelunke alter Tage standesgemäß die Kante zu geben, torkelt Diane irgendwann wieder auf die Straße. Da stürmt im Stile eines Sondereinsatzkommandos eine Gruppe von Freunden und Verwandten das Bild, um die Betrunkene ins Auto zu setzen und aufs Sofa zu legen. Nicht das schlechteste Protokoll des Sozialen.

Das Unknown Pleasures Festival findet vom 1. bis 21. Januar im Kino Arsenal und im Kino Wolf statt. Das komplette Programm gibt es hier.

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