One Fine Morning – Im Cannes-Fieber

Erste Eindrücke zu Filmen aus dem Cannes-Programm. Heute: Mia Hansen-Løves neuer Film One Fine Morning.

Mit drei Generationen gleichzeitig hantieren, nebenbei als Dolmetscherin arbeiten, auch das heißt es wohl, erwachsen zu sein. Und alle sind sie unselbstständig: Der senile Vater vergisst und verlegt immer mehr, baut sichtlich ab, wird nicht mehr lange zu Hause bleiben können; mit einem alten Freund scheint auf einmal mehr zu gehen als nur Freundschaft, aber Clément ist verheiratet und hat einen Sohn und weiß deshalb irgendwie auch nicht so richtig, generiert mixed messages am laufenden Band, während bei Sandra selbst seit einer Trennung vor fünf Jahren gar nichts mehr lief; und die eigene Tochter hat ohnehin ihren eigenen Kopf, während sie von Sandra ganz allein erzogen werden muss.

One Fine Morning ist selbst auch ein Film am laufenden Band, die Gleichzeitigkeit der Entwicklungen übersetzt sich in jene fließende Montage, die man von Mia Hansen-Løve kennt: Ein erster Kuss nach fünf Jahren ist aufregend, aber weil man dem Kind versprochen hat, beim Fechttraining zuzugucken, ist für die Schwarzblende, die dieser Moment eigentlich verdient hätte, keine Zeit.

Sandra ist, anders als Sylvia in Der Vater meiner Kinder oder Nathalie in Alles was kommt, nicht mit einem plötzlichen, unvorhergesehen Ereignis konfrontiert, sondern mit separaten Entwicklungen, die sich in ihr Leben einschleichen und allmählich an Bedeutung gewinnen, immer intensiver gefühlt werden und sich deshalb doch irgendwann miteinander bekannt machen müssen.

Der Vater kommt von einem Heim ins nächste, Zimmer müssen beguckt, Gespräche geführt werden, vor allem wohin mit diesen ganzen Büchern? Wie immer bei Hansen-Løve hilft die Jugend, und ein paar alte Studis übernehmen die Bibliothek. Überhaupt streckt sich der Film in alle Richtungen aus, auf allerlei mögliche Konferenzen, auf denen Sandra dolmetschen muss, in den Klimaaktivismus der Mutter, die zur Belustigung der Familie jetzt Teil von „Youth for Climate“ ist, und in die Krankenhausflure dieser Welt, wo überall senile Alte umhergeistern, die nicht minder am Leben sind.

Hansen-Løves Filme sind Ensemblewerke vor allem deshalb, weil Figuren nicht autonom, sondern Knoten in einem Beziehungsgeflecht sind, das der Film nicht kreativ spinnt, sondern in das er sich einfach hineinlegt. Die Verbindungen scheinen immer schon da, noch bevor das durch sie Verbundene existiert. Hansen-Love braucht keine Establishing Shots für ihre Szenen, weil sie gar nicht anders kann, als das Leben, das sie beguckt, als bereits etabliertes zu denken, das weiterläuft, immer weiterläuft. Keine Figur, in der das Drama ablaufender Lebenszeit nicht schon eingerechnet wäre, deshalb berühren sie mich mehr als solche, die für ein ganz bestimmtes Drama erst erfunden wurden.

Über diesen neuen Film gäbe es noch viel zu schreiben, an dieser Stelle nur noch: Toll zu sehen, wie Léa Seydoux, so häufig als Chiffre, als Persona, als Mysterium gecastet, hier mühelos eine Charakterstudie trägt. Hansen-Løve macht es ihr leicht, weil sie ihre Geschichten zwar klar um eine meist weibliche Hauptfigur zirkulieren lässt, die Last dieser Geschichten aber auf vielen Schultern verteilt, durch das Beziehungsgeflecht abfedert. Schon in der Poetik der Filme ist angelegt, dass die actrice zur reactrice wird.

Und in der Politik: Auch dieser Film ist kein feministisches Pamphlet und macht doch klar, wer hier welche Last wem aufbürdet, wer mir nichts, dir nichts agiert, wer darauf reagieren muss. Verständnis haben, für den ex-intellektuellen Vater, das eigensinnige Kind und den emotional überforderten Geliebten. Dafür ist Sandras Beruf ein schönes Bild. Sie ist irgendwie auch Dolmetscherin des eigenen Lebens: Für den inhaltlichen Input sorgen die anderen, schlau draus werden muss sie selbst.

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