Muss man nicht verstehen – Im Cannes-Fieber
Vor lauter narrativen Angeboten vergisst man in Cannes manchmal, sich einfach treiben zu lassen. Einige der besten Filme des Festivals fordern ein anderes Verständnis von Kino ein.

65 Mal stirbt Udo Kier in dem Kurzfilm Staging Death von Dokumentarfilmregisseur Jan Soldat. Aus mehr als 200 Filmen hat er sich die Szenen zusammengesucht, in 70 gibt es eine Sterbeszene, die fünf Tode, die fehlen, passieren nicht im Bild. Mich überfordert diese Collage, die Teil des vergleichsweise experimentellen Kurzfilmprogramms der Quinzaine des Réalisateurs ist. Ich suche nach Möglichkeiten, die Clips einzuordnen, die Filme zu erkennen, die Verbindungslinien zwischen den vielen Todesmomenten. Dabei will diese konzentrierte Anordnung eindeutig einen anderen Zugang bieten, eine Reizüberflutung, eher motivisch-sinnlich und humoristisch wirken.

In Cannes erlebe ich immer wieder diese Momente, in denen ich gefordert bin, meine Erwartungshaltung zu überdenken, mich zu öffnen für Erzählungen, die nicht wie das Gros des Programms mittels figurierter Konflikte repräsentative Fragen der Gesellschaft verfügbar machen. Magdala von Damien Manivel ist dafür ein schönes Beispiel, er schockiert mich mitten im Festival ziemlich. Der Film läuft in der unbekanntesten Reihe, der ACID. Der Verein von Filmemacher*innen, die sich für den Vertrieb von unabhängigen Filmen einsetzen (Association for the Distribution of Independent Cinema) zeigt in Cannes und das ganze Jahr lang verstärkt Dokumentarfilme, französische Werke und solche, die bei uns überwiegend gar nicht erst ins Kino kämen. Magdala verfolgt nach den tollen Spielfilmen von Manivel einen anderen Ansatz, einen poetischeren. Die Kamera folgt einer älteren Schauspielerin, sie spielt Maria Magdalena, wobei spielen schon zu viel gesagt ist, denn bis auf ganz wenige Momente gibt es keine Handlung, primär sind es ein Körper und ein Wald, die in immer wieder neue Verhältnisse gesetzt werden. Das ist so schwer zu beschreiben, weil es in seiner poetisch-rhythmischen Evidenz etwas berührt, das näher an Trance und Meditation ist als an intellektuellen und affektiven Reiz-Reaktionen.

The Dam des libanesisch-stämmigen Regisseurs Ali Cherri wiederum findet eine Form, die gleichzeitig visuell betörend, narrativ deutbar und metaphorisch stark ist. Die Geschichte eines Ziegelsteinlegers im Sudan ist eine extrem physische Angelegenheit: Es geht um konkrete Dinge wie manuelle Arbeit und abstrakte Dinge wie die Hoffnung auf ein anderes politisches Regime. Der Kampf gegen einen autoritären Staat, der das kollektive Bewusstsein zu formen versucht, ist einer, der im Kleinen beginnen kann, zum Beispiel im Bau eines Damms. Mit seiner offenen Erzählform und seinem unbedingten Stilwillen beeindruckt Cherri in einem Jahr, in dem in Cannes mehr denn je althergebrachte Formen in immer neuen Aufgüssen und Variationen die Kinoleinwand füllen.

Da ist es nicht einfach, wenn am Ende des Festivals in wenigen Tagen die eindrücklichsten, spannendsten und herausforderndsten Filme Schlag auf Schlag gezeigt werden. In meinem Umfeld erzählt jeder zweite davon, wie ihn Albert Serras Pacifiction mitgerissen hat – in den Schlaf. Dabei ist der erste Film des spanischen Regisseurs, der es (nach den verzaubernden Filmen Liberté in Un Certain Regard und Der Tod von Ludwig XIV als Special Screening) in den Wettbewerb von Cannes geschafft hat, eine Wucht.

Der Film spielt in Französisch-Polynesien und die elegischen, malerischen Bilder beschwören den Exotismus der Pazifik-Inseln herauf. Benoît Magimel, der hier einen Hochkommissar spielt, wirkt in seinen Bewegungen, aber vor allem in seinen Interaktionen, wie ein ziemlich abgeklärter Mafioso. Einige der schönsten Szenen dieses Films, in dem die politischen Verhältnisse diskutiert werden, vor allem aber die Gefahr neuerlicher Atomtests drohen, spielen in einem Nachtclub mit kaum bekleideten Mitarbeitern. Die Inseln werden umkreist, vom Helikopter aus betrachtet, vor allem aber von der See aus, ohne dass je ein ganz klarer Erzählstrang das alles zusammenhalten würde. Und doch ergibt sich ein unheimlich faszinierendes Bild mit Anklängen an den Neo-Noir, auch ein fernes Echo von Apocalypse Now ist zu hören. Die Leere, der Nihilismus, ist hier sehr viel überzeugender als in der umso bemühteren Satire von Ruben Östlund Triangle of Sadness. Überhaupt könnte man diese zwei Filme ziemlich gut in einem Double Feature zeigen und die Möglichkeiten von unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung mit Dekadenz und Macht erforschen.

Pacifiction, mit seinem wunderbar schillernden Titel, der gleichzeitig auf den Pazifik, auf den Frieden (pacifier) und auf die Mittel des Kinos zur Fiktionalisierung anspielt, ist ein Werk von so durchdringender Schönheit, dass es einem regelmäßig den Atem verschlägt. Gleichzeitig ist es der Film von Serra, der die größten Verwandtschaften zu dem Kino eines Apichatpong Weerasethakuls aufweist, mit dieser Fähigkeit, Politik in einen meditativen, beinahe transzendentalen Sog zu übersetzen, ohne sie zu entpolitisieren, ganz im Gegenteil. Die Suche nach der Marine, die in einem U-Boot in der Nähe sitzen könnte, um den nächsten Atomtest vorzubereiten, ist nie ganz abgeschlossen.









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