Memoria – Im Cannes-Fieber

Erste Eindrücke zu Filmen aus dem Cannes-Programm. Heute: Apichatpong Weerasethakuls Memoria, der mit Tilda Swinton die Ewigkeit irritiert.

Eine Alarmanlage geht los, des Nachts in Medellín, die Alarmanlage eines Autos, zunächst, dann die eines weiteren, bis irgendwann der ganze Parkplatz heult. Ein kurzer Aufstand der Maschinen, eine Symphonie der Sirenen. Eine Irritation.

Bei Bewusstsein ist dieser Film, aber im Dämmerzustand. Memoria ist ein nicht ganz menschliches, nicht vollends unmenschliches Bewusstsein, eine Membran zwischen dem Physischen und dem Metaphysischen. Wer könnte diese Membran besser verkörpern als Tilda Swinton? Als fester und doch fragiler, als am Boden haftender und doch somnambuler Körper entspricht sie dem ruhigen und zugleich ruhelosen Fluss des Kinos von Apichatpong Weerasethakul.

Swinton ist die britische Orchideenforscherin Jessica, die sich in einfachem Spanisch durch die kolumbianische Stadt fragt und erklärt. Sie kann erklären, dass sie nicht schläft, und damit auch die Trance des Films, nicht aber, woher der Donnerschlag rührt, der nur in ihrem Kopf und auf der Tonspur von Memoria zu hören ist. Sie sucht das Geräusch zu beschreiben, zu reproduzieren, zu bändigen. Bald mithilfe eines charmanten Tontechnikers, den es vielleicht nicht gibt, der in seiner Recherche aber, angeleitet von Jessicas so erratischen wie poetischen Beschreibungen, dem Geräusch erstaunlich nahe kommen wird.

Mythische Ursprünge scheinen auf die Zukunft des Virtuellen zu treffen, aber Weerasethakuls Filme entspringen immer einer Mitte, scheren sich nicht um Anfang und Ende, nicht des Films, nicht der Welt. So landen wir irgendwann im Dschungel-Limbo, und Jessica begegnet einem Mann, der sich an alles erinnert, und deshalb ganz erfahrungsmüde ist. So legt er sich denn auch schlafen, und die Trance von Memoria überträgt sich endgültig auf mich.

Auch Jeanne Balibar spielt in diesem Film mit. Als Anthropologin, die ausgegrabene Knochen untersucht, erklärt sie Jessica einmal, das Loch in einem Schädel habe man einst hineingebohrt, um böse Geister freizulassen. Ist es das, was in diesem Film passiert? Die tollste Szene legt jedenfalls nahe, dass Memoria etwas innewohnt, das erwacht und herauswill.

Vielleicht fühlte sich die Welt so an wie dieser Film, würden wir uns einfrieren lassen (wie man die Orchideen einfriert, in den riesigen Kühlschränken, die Jessica einmal in einem Laden bestaunt) und dann erwachen. Eine Irritation, Maschinenheulen, ein wiederkehrender Donnerschlag, eine Dämmerphase, und dann die ganzen Erinnerungen.

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