First Time - Im Locarno-Fieber
Erste Eindrücke zu Filmen aus dem Programm von Locarno: In First Time ehrt Nicolaas Schmidt Coca-Cola für ihren Beitrag zu unserem Liebesleben. Oder: Konsumkritik trifft Plansequenz.

„Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit.” In der einen Einstellung, die fast, aber nicht ganz, diesen Film ausmacht, steht auf einer Tafel dieser Spruch, den ich erst nach vielen Minuten bemerke, so sehr bin ich von den dokumentarisch anmutenden Details im Zentrum (und am Rande) des Bildes gefesselt. Es ist der Titel eines Musikalbums von Ja, Panik aus dem Jahr 2011. Genau genommen ist der Titel des Albums die Abkürzung dieses Spruchs (DMD KIU LIDT), es handelt sich um „eine deutsche Formel aus dem Umfeld von Occupy und Der kommende Aufstand”, wie der Germanist Moritz Baßler weiß. Im Film von Nicolaas Schmidt sind solche Verweise weder versteckt noch aufdringlich. First Time [The Time for All but Sunset - VIOLET] verbindet Bilder auf eine ganz einfache, einleuchtende Weise miteinander, so dass sich aus ihrer Summe Fragen ergeben.
First Time beginnt mit einer epischen Werbung von Coca-Cola aus den ausgehenden 1980er Jahren, geschnitten auf das Lied „First Time” von Robin Beck. Im Internet gibt es ein paar Versionen davon, eine davon dürfte der im Film nahe kommen. Eine gefühlte Ewigkeit sehen wir bedeutungsschwangere Momente aufkeimender Liebe, Bilder, die Jugend beschwören und vor allem verheißen: Wer Cola trinkt, fühlt sich gut. Dauer ist ganz entscheidend in diesem mittellangen Film, der so recht in keine Schublade passt, weil er Elemente der Videokunst, des experimentellen Films, des Dokumentarischen und des fiktionalen Kinos verbindet.
Da gibt es zum Beispiel Farbflächen mittendrin, die gar nicht mal so kurz stehen bleiben. Und dann die bereits erwähnte, alles dominierende lange Einstellung. Fest kadriert auf einen Vierersitz-Bereich in der Hamburger S-Bahn, im Hintergrund die vorbeiziehende Stadt und in der Spiegelung die andere Seite des Zuges (und eine Reklame). Dort sitzt ein junger Mann, erst Musik hörend, dann einfach nur in die Gegend starrend. Ein anderer junger Mann setzt sich ihm gegenüber. Auch er starrt. Schauen sie sich an? Ja, nein, vielleicht. Könnte es zwischen ihnen zu einer „first time“ kommen? Nachdem Final Stage, Schmidts letzter Kurzfilm, vom Ende einer Beziehung zwischen zwei Jungen erzählte, die ebenfalls von Fynn Grossmann und Aaron Hilmer gespielt wurden, könnte dies eine Vorgeschichte sein?

Diese Totale ist ein Wimmelbild, in dem außer den wechselnden Mitpassagieren, die einsteigen, sich dazusetzen, wieder aufstehen und gehen, nicht allzu viel passiert. Dieses Nichtallzuviel ist gleichermaßen alles, was ein Drama braucht: zwei Menschen, die sich füreinander interessieren könnten. Der Coca-Cola-Spot am Anfang hat zudem eine schöne Erwartung aufgebaut: Da muss doch was passieren! Es ist ein schelmisches Vergnügen, diesem Nichtpassieren und Vielleichtdochpassieren zuzuschauen, während die S-Bahn an touristischen Zentren der Hansestadt vorbeizieht und irgendwann wieder am Anfang ankommt.
Konsumkritik und vor allem eine Auseinandersetzung mit der Prägung unserer Leben durch die Werbung weckt das Arrangement, den Diskurs dazu leistet der Film aber nicht, triggert ihn nur an. Deswegen kann First Time gleichzeitig eindeutig sein und lustvoll-verspielt, ganz im Gegensatz zur Cola-Werbung eben nicht bedeutungsschwanger. Das Pathos der Reklame wird vom Film, wenn überhaupt, nur über seine Dauer eingeholt. Weil First Time zugleich romantisch und voll in der Welt des Marketings zu Hause ist. Das ist wahlweise herrlich inkonsequent oder geradezu eine Pflicht: Wie der Kapitalismus sich die Kapitalismuskritik einverleibt, verleibt sich auch dieser kapitalismuskritische Film die Mittel des Marketings ein. Naturalistisch ist nichts an diesem Setting, so starr und formalistisch die Arbeit mit der Plansequenz auch klingen mag. Schon allein wie Schmidt die Farben manipuliert, ist einem 1980er-Jahre-Werbespot mindestens ebenbürtig.
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