Elliptisch, verkantet, wunderschön – Blicke auf die japanische Filmgeschichte der 1960er Jahre

Das Berliner Kino Arsenal blickt in diesem Herbst auf eine Filmnation im Umbruch. Vor allem die Schwertkämpfer-Filme von Kenji Misumi zeigen, wie sehr das Alte und das Neue “zwischen Golden Age und Nouvelle Vague” miteinander verbunden waren.

Japan, eine der produktivsten und größten Filmnationen der Welt, wurde Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre vom gleichen Problem heimgesucht, mit dem auch Hollywood und Westeuropa zu kämpfen hatten. Das Fernsehen machte den Kinos das Monopol auf bewegte Bilder streitig und stürzte die Industrie in eine Krise. Die Suche nach einem jungen Publikum führte dazu, dass neue Stimmen eine Chance bekamen. Und mit ihnen entstanden neue Ansätze, wie ein Film auszusehen hat, was gezeigt werden kann.

Die etablierten japanischen Studios boten jungen, aufrührerischen Filmemachern die Möglichkeit, das verkrustete System aufzuweichen. Shochiku, alteingesessen, ehrwürdig, gab recht früh drei Regisseuren eine Plattform, die die sogenannte Shochiku New Wave bildeten – und die allesamt im Laufe des Jahrzehnts schon wieder vor die Tür gesetzt wurden oder flohen: Nagisa Ôshima, Masahiro Shinoda und Yoshishige Yoshida. Nikkatsu, die älteste japanische Filmgesellschaft, ließ ihre Genre-Konfektionsware von Seijun Suzuki zunehmend in absurde Stilisierungen abdriften oder durch Koreyoshi Kurahara ins Tollwütige entstellen.

Gleichzeitig stürmten unabhängige Filmemacher die Kinos, die das vorher so machtvolle Studiosystem links liegen ließen, Leute wie Susumu Hani und Hiroshi Teshigahara. Klassische Filmemacher wie Mikio Naruse strandeten in dieser Moderne und versuchten sich mit ihr zu arrangieren, während kleinere Kinos sogenannte Pinkfilme zeigten, mit minimalem Budget produzierte Werke, deren einzige Gemeinsamkeit Sex und nackte Tatsachen waren. Auf der Leinwand herrschten indessen weiterhin die alten Genreentwürfe in nur etwas neuen Formen: Was für Deutschland Winnetou war, waren für Japan die Yakuza-Filme mit Ken Takakura.

Sicherheiten zertrümmern

Das Berliner Kino Arsenal widmet dieser spannenden Zeit die Reihe Zwischen Golden Age und Nouvelle Vague Neue Blicke auf die japanische Filmgeschichte. Zu sehen ist hier unter anderem Harakiri (Seppuku, 1962) von Masaki Kobayashi, einem Regisseur also, dessen Arbeit bei Shochiku die New Wave ankündigte. In dem Film wird in klaren Bildern über die menschenverachtende, heuchlerische Farce des Samurai-Kodex meditiert. In Yoshishige Yoshidas Flame and Women (Honô to onna, 1967) wiederum führt eine künstliche Befruchtung dazu, dass die idyllisch erscheinende Welt einer Familie zerrüttet wird. Die Realität des Films kommt einem Mosaik aus Erinnerungen und Träumen gleich, eine zerfallende Wirklichkeit, in der Raum und Zeit keine festen Größen mehr sind.

In Kuraharas Black Sun (Kuroi taiyô, 1964) landet ein wegen Mordes gesuchter afroamerikanischer G.I. bei einem Jazzfan, der den nervlichen und körperlichen Verfall seines Gegenübers gar nicht wahrnimmt – er sieht nur jemanden, der für ihn Trompete spielen und singen und tanzen kann. Kaneto Shindôs Onibaba (1964) und Teshigaharas Frau in den Dünen (Suna no onna, 1964) zeigen uns spartanische Welten, existenzielle Fabeln und die Natur – hier ein endloses Schilffeld, dort der endlose Sand – als sinnliche Kraft. Toshio Matsumotos Funeral Parade of Roses (Bara no soretsu, 1969) stellt Geschlechternormen und Sinnzusammenhänge infrage. Überhaupt wird in den Filmen kein Stein auf dem anderen gelassen. Die Sicherheiten von Politik, Identität und Realitätswahrnehmung werden zertrümmert, die Bilder sind oft von expressiven Kontrasten gekennzeichnet oder von intensiver Farbigkeit, ein atonaler Score oder wilder Jazz weht darüber.

Kunstfertiger Stilist, bisher nicht unter Kunstverdacht

Und mittendrin findet sich Kenji Misumi. Sein Regiedebüt Sazen Tange: The Monkey Pot (Tange Sazen: Kokezaru no tsubo) war 1954 Teil der Filmreihe um den herrenlosen, einarmigen und einäugigen Samurai Sazen Tange. Prestigearbeiten wie der erste japanische 70-mm-Film über das Leben Buddhas – Buddha (Shaka, 1961) – blieben während seiner Karriere Ausnahmen. Seine umfangreiche Filmografie – die IMDb zählt 73 Regiearbeiten – besteht größtenteils aus Chanbaras, also Schwertkampffilmen, oft Teile von Filmreihen. Auch wenn er stets ein kunstfertiger Stilist war, stand er nie im Verdacht, (große) Kunst zu schaffen.

Seine im Westen bekanntesten Filme sind seine vier Beiträge zum sechsteiligen Lone Wolf & Cub (Kozure Ôkami, 1972–1974) sowie sein Anteil an der Reihe über den blinden Masseur Zatôichi – er führte bei sechs der zwischen 1962 und 1973 produzierten 25 Filme Regie. In beiden Reihen geht es um klassische Genrefiguren – ein Masseur kämpft mit Schwert und geschärften Sinnen gegen die Ungerechtigkeit, ein ehemaliger Scharfrichter tötet sich durch eine korrupte Welt, im Schlepptau seinen Sohn im Kinderwagen. Während die eine Reihe größtenteils klassisch erzählt wird, steht die andere mit ihrer Pop-Art-Insistenz auf Sex und Gewalt in einer anderen Zeit, dem Exploitationkino der 1970er Jahre.

Von diesen Filmen ausgehend, ist ein Werk wie die lose verbundene Schwert-Trilogie, die in den 1960er Jahren entstand und nun im Arsenal zu sehen ist, keine geringe Überraschung. Wie die zuvor genannten Filme ist zwar auch sie ein Kind ihrer Zeit, doch auf ganz andere Weise. Das Genre macht hier der Aufbruchsstimmung des Jahrzehnts Platz, die Filme sind viel leichter als Kunst zu erkennen. Sie sind ambivalent, in ihnen herrscht eine tiefsitzende Unsicherheit, und sie nutzen klassische ästhetische Ansätze des japanischen Kinos wie Fragmentierung oder blockierte Sicht auf ihre eigene Weise.

In Ken (1964) sucht ein Kendo-Schüler nach Reinheit, Askese, Kraft und Härte und steuert auf einen Märtyrertod zu. Der protofaschistischen Vorlage (Yukio Mishima) steht dabei ein Film voll Schweiß, Licht und traurigen Augen entgegen, der seinem Helden desorientiert und verwundert begegnet. Sword Devil (Kenki, 1965) handelt vom Sohn eines Hundes und einer Frau – so will es jedenfalls der Klatsch der Stadt –, einem jungen Mann im Widerstreit zwischen Natur und Zivilisation, einem Gärtner mit übermenschlichem Können am Schwert, der sich auf die Zucht aberwitzig schöner Blumen ebenso versteht wie auf die rasche, wahnwitzige Zerstörung mit der Klinge. Sword-Cut (Kiru, 1962) schließlich handelt von einem Samurai, der einen unorthodoxen, unbesiegbar machenden Kampfstil erfunden hat und auf Rache aus ist. Der dazugehörige Film ist elliptisch, verkantet, wunderschön.

Etwas zufällig zusammengewürfelt

In ihrem Verhältnis zwischen Herkömmlichen und Neuem sind die Filme wie geschaffen für eine Reihe namens Zwischen Golden Age und Nouvelle Vague Neue Blicke auf die japanische Filmgeschichte. Während Misumi aber tatsächlich einen solchen neuen Blick erkennbar macht und die Spannung seiner Zeit offenbart, ist der Rest der Reihe größtenteils kanonisierte japanische Filmgeschichte. Die oben genannten Filme sind fast allesamt zentrale Werke der New Wave, wenn sie weit gefasst wird. Sie finden sich in den entsprechenden Büchern, Filmreihen und Artikeln. Ihr Mehrwert für eine neue Perspektive wäre einzig, dass sie zeigen, wie nahe Misumi ihnen stehen kann. Kuraharas Film oder The Mad Fox (Koiya koi nasuna koi, 1962) von Tomu Uchida gehören zu den wenigen etwas obskureren Arbeiten. Die größte Überraschung ist so gesehen, dass nicht Yoshidas Hauptwerk Eros + Massacre (Erosu purasu gyakusatsu, 1969) ausgepackt wird, sondern mit Akitsu Springs (Akitsu onsen, 1962) und Flame and Women (Honô to onna, 1967) weniger alte Hüte – auch wenn sie nicht unbedingt einen ganz anderen Regisseur offenbaren.

Hinzu kommt, dass Misumi als einziger Filmemacher mit fünf Beiträgen vertreten ist (die Schwerttrilogie und zwei weitere), während von den anderen Regisseuren jeweils nur eine oder zwei Arbeiten zu sehen sind. Auch liefen Misumis Filme in fast derselben Zusammenstellung vor zwei Jahren in Bologna beim Il cinema ritrovato, die Schwert-Trilogie ist zudem gerade in Frankreich auf Blu-ray veröffentlicht worden. Der Eindruck lässt sich nicht abschütteln, dass diese Filme eben gerade greifbar waren und noch schnell noch ein paar Filme dazugepackt wurden, die das eingangs beschriebene Spannungsfeld aber nur bedingt einfangen. In ihnen zeigt sich eher eine verengte Perspektive auf das sichtlich künstlerisch Wertvolle. Vor allem wirken sie aber etwas zufällig zusammengewürfelt.

Was nicht heißen soll, dass die Reihe schlecht wäre. Die Filme sind durchweg aufregend, einzigartig, ein Genuss. Gerade da viele auf 35 mm gezeigt werden, zunehmend eine Rarität, ist die Möglichkeit, sie nun endlich kennenzulernen, umso erfreulicher - vielleicht kann man sie zum letzten Mal in dieser Form erleben. Nur die neuen, aufregenden Perspektiven auf die japanische Filmgeschichte bleiben eher Mangelware.

Hier geht's zum Programm der Reihe.

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