Do You Love Me? – Im Berlinale-Fieber
Erste Eindrücke zu Filmen aus dem Programm der Berlinale: Heute über einen Coming-of-Age-Film, in dem eine siebzehnjährige Ukrainerin mit ihrem Spiegelbild Küssen übt, während 1991 die Sowjetunion zusammenbricht.

Ihre Eltern klopfen schon ungeduldig an der Zimmertür, aber Kira dreht die Musik einfach noch lauter. In den weißen Lederstiefeln ihrer Mutter tanzt sie vor dem Spiegel zu Venus von Bananarama, flirtet mit ihrer Reflexion, übt Küssen mit ihr, wie viele es tun. Kira ist siebzehn. Mit einem Fuß noch im Kinderzimmer, steht sie an der Schwelle zu einer neuen Lebensphase. „Liebst du mich?“, fragt Kira immer wieder. Ihren Vater, ihre Mutter, später ihren ersten Freund, nachdem sie sich gestritten haben. Das Bedürfnis, geliebt zu werden, zu lieben, sehen und gesehen zu werden, zieht sich durch Tonia Noyabrovas Film, der intim, teils komisch von den Umstürzungen im Leben einer jungen Frau erzählt – zeitgleich mit der eines ganzen Staatssystems. Do You Love Me? spielt in der Ukraine im Jahr 1991, kurz vor dem Fall der UdSSR.
Das Herbstlaub ist doch gerade so schön bunt

Selbstsicher, teils gelangweilt bewegt sich Kira durch die Menschenmenge auf einer der vielen Partys, die ihre Eltern für die örtliche Boheme im Wohnzimmer schmeißen. Ihr Vater dreht Propagandafilme für die Regierung und ermöglicht seiner Familie so einen wohlhabenden, behüteten Lebensstil. Der beginnt Kira zu entgleiten, als eines Tages eine junge Frau sie vor ihrer Schauspielschule abfängt und sich als Geliebte ihres Vaters vorstellt. Kira hört schnell nicht mehr zu, steht auf, schaut nicht mehr zurück und legt sich im Wald ins Laub. Sie ist noch nicht bereit für die Härte des Lebens. Und das Herbstlaub ist doch gerade so schön bunt. Karyna Khymchuk spielt Kira als einen Menschen, dem die Kindheit noch im Charakter eingeschrieben ist und der daher voller Widersprüche steckt. Ihre Umgebung ist reich an Texturen und Details. Um die Zeit ihrer Jugend so detailgetreu wie möglich ins Leben zu rufen, hat Noyabrova Jahre vor Drehbeginn mit Szenograf Volodymyr Romanov und Kostümbildnerin Tetyana Kremen begonnen, originale Requisiten und Kleidungsstücke zu sammeln. Die Ästhetik des Films ist zugleich geerdet und nostalgisch stilisiert.
Egozentrik als Überlebensmechanismus

Kira erlebt einen Streit zwischen ihren entzweiten Eltern und will ein Exempel statuieren. Also schluckt sie jede Pille im Medikamentenschrank. Als sie aufwacht, zwingt der Rettungssanitäter Misha (Oleksandr Zhyla) in weißer Uniform sie gerade, zu brechen – wie kann eine Beziehung schöner beginnen? Kurze Zeit später zieht sie bei ihm ein. Als aber der Währungskurs sinkt und morgens immer weniger Essen auf dem Tisch steht, kann Kira nicht verstehen: Wieso schmeißt Misha nicht seinen Job und verkauft Ferngläser im Ausland wie alle anderen? Für einen Idealismus ist sie zu jung und zu behütet aufgewachsen. Kiras Jugend wird durch die Krise nicht aufgehalten; für das Politische fehlt ihr der Blick. Wer kann es ihr verdenken? Sie ist siebzehn. Und Egozentrik ist für viele Jugendliche ein Überlebensmechanismus.
Tonia Noyabrowa erzählt die Geschichte persönlicher und nationaler Krisen mit der starken Leichtigkeit von Kiras subjektivem Blick. Diese persönliche Note verstärkt sich noch, als die Regisseurin am Ende auf die Bühne kommt und man sich vorstellt, wie eine selbstsichere, meinungsstarke Tonia aus einer Kira erwachsen kann. Am Ende ist ihr Film auch eine Erzählung über Parallelität. Darüber, wie junge Menschen in Zeiten von Krisen heranwachsen und wie diese Krisen sich in deren Selbstfindungsprozesse hineinweben. Eine Lebensrealität, auf die wir uns in Zukunft ohnehin vorbereiten müssen.
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