Die Vielfalt der Erfahrungswelten – Im Cannes-Fieber

Fragen von Gender, Geschlecht und Gaze ziehen sich durch das Programm der Quinzaine des Réalisateurs. Etwa in Filmen von Annie Ernaux und João Pedro Rodrigues.

In der Quinzaine des Réalisateurs, der von Regisseur*innen gegründeten Nebenreihe des Festivals von Cannes, ist in diesem Jahr zum letzten Mal zu besichtigen, was sich Programmleiter Paolo Moretti und sein Auswahlteam vom Kino versprechen. Weil bis heute ein Vorstand an aktiven Regisseur*innen darüber entscheidet, ob der (jeweils nur einjährige) Vertrag mit dem künstlerischen Leiter der Sektion verlängert wird, kommt es an dieser Position häufiger zu einem Wechsel. Zeitgemäßer soll das Programm werden, die Sektion besser identifizierbar im Gewusel an der Croisette, so hört man. Sogar der Name der Reihe stehe zur Disposition. Großsprecherische Ankündigungen und Umwälzungen sind mit Moretti nicht zu haben, das stimmt jedenfalls.

Moretti konnte in seinen vier Amtsjahren – einer Ausgabe vor Corona, einer ausgefallenen und zwei mit Corona – nur bedingt zeigen, wofür er steht. Experimenteller, diverser, genreaffiner wirkte der Querschnitt, den ich davon sehen konnte. Sehr vielversprechend ist das Programm auch in diesem Jahr schon vom Papier her, gerade weil es ziemlich eklektisch Autorenkino, Horror- bzw. Genre-Exkurse und unterschiedlichste Sensibilitäten verheißt. Das ist nicht nebensächlich, denn zunächst einmal müssen Festivals, für diejenigen, die hinfahren, wie für die anderen, Sehnsucht wecken.

Zu den Filmen, die schon mit ihrer Ankündigung meine Neugierde entfacht haben, zählt der essayistische Film The Super 8 Years von Annie Ernaux und ihrem Sohn David Ernaux-Briot. Vielleicht würde der Film nicht so viel bedeuten, hätte ihn nicht eine etablierte Romanautorin gemacht, von der nicht zuletzt die Vorlage für den Gewinner des Goldenen Löwen 2021 The Happening (L’évènement) stammt. Ihr Film, bestehend aus Found Footage, das die Autorin und ihr Ehemann in den 1970er Jahren drehten, ist eine sehr feinsinnige Hommage an die Kultur der Super-8-Amateurfilmerei, die sehr selektiv Geschichte rekonstruierbar macht. Das Setup selbst entspricht bereits einem Gender-Stereotyp: Der Mann filmt, die Frau und ihre Kinder lächeln in die Kamera. Die Gestalt des Films vermittelt sich ganz entscheidend über die Perspektive der Autorin, die den Film mit einem Off-Kommentar versieht, der die Entstehung der Bilder oder vielmehr die eigene Biografie im Licht dieser Familien-Performance betrachtet. Ein feministisches Kleinod, das gleichzeitig zum Lehrbuch taugt, wie sich Amateurmaterial archivarisch lesbar machen lässt.

Die Faszination des kolumbianischen Films A Male (Un Varón) hat ebenfalls viel mit Fragen von Genderperformance und Machismo zu tun. Die Frage nach dem biologischen wie dem erlebten Geschlecht der Hauptfigur fräst sich vom ersten Moment an in die Erfahrung des Films: Carlos (Felipe Ramirez) ist ein junger Mann in Bogotá, dessen Schwester sich prostituiert und dessen Mutter im Gefängnis sitzt. Er ist ein Junge, er muss ein Junge, besser ein Mann sein in dieser Welt. Ihm ist das Leben im Jugendheim offensichtlich unbehaglich, das auf den Straßen noch mehr.

Carlos bemüht sich um abgebrühte Bewegungen, um Lässigkeit, guckt runter, hebt die Schultern hoch, krümmt den Rücken. Nichts davon wirkt natürlich, denn darum geht es. Erst recht, wenn er tiefer ins Drogengeschäft gezogen wird, wenn er sich und seinen Mut beweisen muss, wo er doch nur einen Wunsch hat, mit Schwester und Mutter Weihnachten zu verbringen. Wo andere Filme den Kampf mit Stereotypen ausagieren, in Dialogzeilen stecken und in Konflikten aufgehen lassen, lässt A Male die entscheidenden Fragen nur zwischen den Zeilen, im Schauspiel und im Verhältnis der Hauptfigur zu ihrer Umwelt aufscheinen, in der Beobachtung von erfüllten und übererfüllten Klischees von Männlichkeit und Weiblichkeit.

Dezidiert queer wird es in Will-O’-The-Wisp (Fogo-Fátuo) von João Pedro Rodrigues, der mit fantastischen Filmen wie Der Ornithologe (O Ornitólogo) und O Fantasma einer der wichtigsten Regisseure Portugals wurde. Sein neuer Film stellt vielleicht eine Klammer in seinem Werk dar, er wirkt sowohl experimenteller als auch momenthafter. Als Meta-Arrangement beginnt es, ziemlich steif und unorganisch, mit einem Humor, den ich nicht verstehe, dem ich äußerlich bleibe, da sieht man einen König und seine Familie, wie sie diskutieren, inklusive Klimadebatte, vielleicht satirisch, ganz sicher deplatziert. Nach einer knappen halben Stunde springt der Film in eine auf den ersten Blick realistischere oder zumindest vertrautere Welt, in der der Prinz Feuermann werden will.

Hier entspinnen sich für Rodrigues’ typische Fantasien, entlang sexueller Stereotype, aber so verdreht und entspannt, dass es gleichzeitig erotisch, lustig und romantisch zugeht. Der Prinz lernt Erste Hilfe, und bald schon spritzt er aus einem offensichtlich künstlichen Penis große Strahlen Samen. Der Coup des Films ist die Art, wie er die gezeigten Situationen ernst nimmt, gerade dann, wenn sie völlig abgehoben und unglaublich sind. In einer Szene, die ins kollektive Gedächtnis des schwulen Kinos eingehen könnte (und sollte), stellen ziemlich nackte Feuerwehrmänner berühmte Gemälde nach. Der Prinz erkennt sie nicht, aber er ist ja da, um etwas zu lernen.

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