Der misogyne Monopolist, endlich unter Beschuss
Beschwerden werden nicht geduldet, auch Fragen zu strategischen Entscheidungen sind nicht willkommen: Cannes-Direktor Thierry Frémaux ändert schleichend seinen Diskurs zur Geschlechtergerechtigkeit, wirkt 2023 aber doch so defensiv wie noch nie. Ein Kommentar.

Während der Leiter des wichtigsten Filmfestivals der Welt in früheren Jahren siegesgewiss und locker mit Fragen der Presse umging, zeigt er sich nun, am Tag vor dem Start der 76. Ausgabe des Festivals von Cannes, reizbar und ungeschickt. Viele Themen ploppen auf an diesem Nachmittag, und wer Pressekonferenzen auf Filmfestivals kennt, wird nicht überrascht sein, dass die Befragten ungehalten reagieren können. Die Fragen sind oft unterirdisch, die interessanten sparen sich Journalist*innen meist für Einzelgespräche auf. Ein Gespräch entsteht ohnehin nicht. Aber 2023 gelingt es Frémaux immer weniger, einen guten Spin zu finden für jene Fragen, die sein Programm und das Festival insgesamt aufwerfen. Auf die wenigsten antwortet er, wirft lieber der Presse vor, sich zu beschweren und will nichts davon wissen, dass nicht alle Entwicklungen des Festivals positiv bewertet werden.
Cannes und die Vergewaltiger

Frémaux’ widersprüchliche Performance ist bezeichnend für den Kulturwandel, den die Kinobranche aktuell durchlebt. Nachdem der Festivaldirektor über Jahre den eigenen Blick aufs Kino als einen universellen ausgegeben hat, bekräftigte er in diesem Jahr erneut, dass er und seine Kolleg*innen bei der Auswahl des Programms im Zweifel Filmen von Regisseurinnen den Vorrang geben würden. Außerdem erklärte er erstmals, er sei auf Diversität in seinem Team angewiesen, weil die Menschen je unterschiedliche Blicke aufs Kino haben. Eine Selbstverständlichkeit, könnte man meinen, wenn man frühere Aussagen des Chefs nicht kennt.
Wie wenig überzeugend dieser Gesinnungswandel daherkommt, wird offenbar, wenn Frémaux mit den Vorwürfen von Adèle Haenel (u.a. Porträt einer jungen Frau in Flammen) konfrontiert wird. Cannes setze sich für Vergewaltiger ein, sagt die Schauspielerin, die seit 2020 sukzessive dem Kino den Rücken kehrte. In einem Brief an die französische Zeitschrift Télérama, der am 9. Mai veröffentlicht wurde, erklärte sie jüngst, warum sie der Kunst erhalten, dem Kino aber fernbleibt. Sie bescheinigt der Branche eine „allgemeine Nachsicht gegenüber Sexualstraftätern“. Gemeint ist damit der Umgang mit Männern wie Gérard Depardieu, Johnny Depp, Roman Polanski und dem Präsidenten der französischen Filmförderung Dominique Boutonnat. Alle wurden sie mindestens wegen Missbrauchs angezeigt, angeklagt oder, wie im Fall Polanski, verurteilt.

Oft spielt Thierry Frémaux das Spiel der ausweichenden oder nur halben Antworten. Schon zu Beginn der Pressekonferenz kündigt er an, nur über Filme zu sprechen, die im Programm laufen. Anders als in Interviews, in denen er etwa angedeutet hat, dass er den neuen Film von Woody Allen aufgrund potenzieller Kontroversen nicht berücksichtigt habe. Bei Haenel weicht er nicht aus, sondern geht über zum misogynen Gegenangriff, übt sich gewissermaßen in einer Täter-Opfer-Umkehr. Nicht nur radikal sei ihre Haltung, sondern auch inkonsistent, weil sie diese Ansichten sicher nicht gehabt habe, als sie auf dem Festival noch als Schauspielerin gefeiert wurde. Er wirft ihr vor, das Festival für die eigene Sache zu missbrauchen, nur um dann gönnerhaft zu behaupten, das mache ihm nichts aus, Cannes werde schließlich oft als Projektionsfläche für alle möglichen Themen genutzt. Implizit: Haenels Vorwürfe sind nicht stichhaltig, sollen nur Aufmerksamkeit generieren.
Der versammelten Presse stellt er dann mit großer chauvinistischer Geste die Frage: „Glauben Sie das wirklich? Wären Sie hier, wenn Sie das glauben würden? Sie können doch nicht hier sein und glauben, dass wir systematisch Vergewaltiger unterstützen?“ Wir, die Presse, die Komplizen. Ein bisschen trifft er etwas damit: Wenn wir hier sind, sind wir Teil des Ganzen. Aber sind wir nicht hier, um zu beobachten, Schwachstellen aufzuzeigen? Vielleicht müssten wir alle, wie Haenel, Cannes den Rücken kehren, das wäre ehrlicher.
Festivalrepräsentanz aus der Vergangenheit

Die Konzentration auf wenige Kino-Events und Filme hat sich in Zeiten fragiler Märkte und Auswertungschancen drastisch verschärft, und das gesamte Ökosystem leidet darunter: Cannes hat das Monopol auf den Autorenfilm und ist auch für große Teile des Arthouses und kleinere Teile des Mainstreams unumgänglich, beinahe alle Akteure des Kinos wollen oder müssen vor Ort Präsenz zeigen. Da ist erschreckend, wie wenig Frémaux begriffen hat, was eine Machtposition mit sich bringt, und wie systemische Zusammenhänge funktionieren. Es sollte eine selbstverständliche Erkenntnis sein, dass auch Cannes durch patriarchale Strukturen geprägt ist. Dass es besonderer Anstrengungen bedarf, um diese Strukturen aufzubrechen. Dass es nicht genügt, sich auf das Gesetz und auf die Meinungsfreiheit zu berufen. Solange Ungleichheiten in der Gesellschaft allgemein, und im Film mit seinen informellen Machtgefügen ganz besonders, weiter vorherrschen, kann man sich nicht darauf ausruhen, neutral zu sein, nur Gerichtsurteile anzuwenden. Sich nicht für den Prozess gegen Johnny Depp zu interessieren, ihn nur als Schauspieler zu sehen. So zu tun, als habe Maïwenn, deren Film mit Depp in der Hauptrolle zur Eröffnung läuft und die sich als Gegnerin der #Metoo-Bewegung inszeniert, nicht gerade einen Journalisten, der einen unliebsamen Bericht verfasste, tätlich angegriffen und das im Fernsehen mit einem großen Lächeln auch noch zugegeben.
Thierry Frémaux ist seit 1999 an der Spitze des Festivals, zunächst als künstlerischer Leiter, seit 2007 auch als Geschäftsführer. Zur Presse hat er ein ambivalentes Verhältnis, und doch stellt er sich jedes Jahr wieder am Tag vor der Eröffnung den Fragen der Journalist*innen. Er sitzt dort allein, wo später die Filmteams oft zu zehnt auffahren. Neben ihm sitzt niemand aus dem Auswahlkomitee. Auch keine Mitarbeiter*innen anderer Teile des Festivals. Nur einmal, ganz kurz, bittet er die Pressechefin um eine Meldung, als es um das hakelige Ticketing-System geht, das die Gemüter vieler Festivalbesucher*innen in den ersten Tagen von Cannes erhitzt. Wenn man ihn 2023 da so sitzen sieht, wird immer offensichtlicher: Diese Form der Festivalrepräsentanz, allein, süffisant, defensiv, sie gehört in die Vergangenheit.
Bild Thierry Frémaux © Jean-Louis Hupe / Festival Cannes
Kommentare zu „Der misogyne Monopolist, endlich unter Beschuss“
Es gibt bisher noch keine Kommentare.