Crimes of the Future – Im Cannes-Fieber
Und die Leute blieben sitzen: David Cronenbergs Crimes of the Future hat seine lang angekündigte Premiere hinter sich. Erste Gedanken zu Film und Drumherum.
Als Léa Seydoux den Reißverschluss öffnet, den sich Viggo Mortensen für einen „inner beauty contest“ quer über seinen Bauch hat pflanzen lassen, und mit ihrer Zunge in ihrem Partner rumzustöbern beginnt, hat eine Dame ein paar Reihen vor mir dann doch mal genug, schnappt sich ihre Tasche, steht auf und verlässt den Saal. Die Reaktion auf den Bellyjob war, soweit ich das überblicken konnte, der einzige unmittelbar auf das Leinwandgeschehen rückführbare Walkout während der Pressevorführung im durchaus großen Debussy-Saal.
Nun sind Pressevorführungen wohl ohnehin weniger anfällig für Provokationen, das Publikum resistenter und weniger zart besaitet, doch auch bei der Gala-Vorstellung, die zeitgleich nebenan im noch größeren Lumière-Saal läuft, dürfte man auf die Massenflucht, die David Cronenberg selbst ein paar Tage vor der Premiere seines neuen Films beschworen hat, vergeblich gewartet haben. Crimes of the Future, so der erste Eindruck, ist trotz Howard Shores wie eh und je dröhnender Filmmusik eher eine entspannte und ziemlich lustige Groteske als der eXistenZ-Crash, auf den man sich angesichts einer Tagline wie „surgery is the new sex“ an der Croisette eingestellt hatte.

Wie clever und stimmig das Ganze dann ist, wird man zum Kinostart noch zur Genüge diskutieren dürfen. Zu entdecken gibt es zumindest herrlich viel: vor allem einen apathischen Mortensen, dem ständig neue Organe wachsen, und eine Seydoux, die mithilfe eines eigentlich für Autopsien erfundenen Geräts Live-Operationen an seinem Körper durchführt. Neben dem Performance-Art-Duo gibt’s noch die zwei von der anachronistisch anmutenden National Organ Registry (unter ihnen eine großartig graumausige Kristen Stewart) und die zwei von der Firma, die Geräte wie das Autopsie-Ding herstellen. Ein Kunst-Staat-Business-Amalgam aus lauter Pärchen.

Cronenberg kreiert glücklicherweise noch immer lieber eigene Welten aus den eigenen Obsessionen, als die unsere mit Black-Mirror-Algorithmen akribisch hochzurechnen, und auch in Crimes of the Future ist seine Vision keine neunmalklug durchdachte und doch eine nicht gänzlich unplausible Verlängerung gegenwärtiger Tendenzen in eine zeitlich nicht näher bestimmte Zukunft: Der medizinische Fortschritt hat den menschlichen Körper zunehmend vom Schmerz befreit, das Accelerated Evolution Syndrome tritt immer häufiger auf, Mutationen am laufenden Band sind die Folge. In dieser Welt sind Piercings und Tattoos nicht genug, Schreibtisch-OPs die neue Körperkunst, buchstäblich einschneidende Erlebnisse ein neuer Fetisch.
Etwas belanglos dagegen auf den ersten Blick der sich aus dem Hintergrund in den Vordergrund drängelnde Plot um synthetisch hergestellte Nahrungsmittel, und manchmal ermüdend die vielen Punchlines, die zwar meist sitzen, in der Masse dann aber auch etwas streng nach dem Drehbuch müffeln, aus dem sie auf die Leinwand strömen. Umso herzzerreißender die Hoffnung, auf die der Film zuläuft: dass wir das Plastik, das wir als Menschheit in Massen produzieren, irgendwie verdauen können und nicht daran ersticken.

Clever ist der Film schließlich auch, weil er sich der eigenen Rolle im gegenwärtigen Kulturbetrieb ziemlich bewusst sein dürfte. Dass im Zentrum von Crimes of the Future ein Performance-Art-Duo steht, heißt schließlich auch: Der bewusste Body-Horror-Tabubruch ist im Cronenberg-Universum von der filmischen Form in die filmische Welt übergegangen: Ein Act, in dem ein mit zugenähten Augen und Mund, dafür mit Dutzenden zusätzlichen Ohren ausgestatteter Tänzer das Zeitalter des Zuhörens ausruft, wird von der Kunstkritik der Zukunft eher mit Augenrollen bedacht: „Your dancing is better than your body act!“ Die Kritiker*innen sind längst auf der Leinwand zu finden, und die Ankündigung einer großen Provokation generiert wohl längst verlässlich mehr Aufmerksamkeit, als es jede viszerale Provokation im Kino noch könnte.
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