Compartment No. 6 – Im Cannes-Fieber

Erste Eindrücke zu Filmen aus dem Cannes-Programm. Heute: Juho Kuosmanens erstaunliche Strangers-on-a-Train-Variation Compartment No. 6, die Klassengrenzen sprengt.

Manches scheint mir sehr nah: Wie Aussagen, die man sich zurechtgelegt oder irgendwo aufgeschnappt hat, um das eigene Verhalten zu erklären, die eigenen Entscheidungen zu rechtfertigen, auf einmal leer klingen, wenn sie in einem anderen Kontext nicht mehr so recht Sinn ergeben. „Es ist gut, was du vorhast“, hatte ein Partygast in Moskau vor der Abreise zu Laura (Seidi Haarla) gesagt und ihr eine Weisheit mit auf den anstehenden Weg gegeben: „Man muss die Vergangenheit studieren, um die Gegenwart zu verstehen.“ Jetzt sitzt die finnische Studentin im Speisewagen auf der Reise nach Murmansk und sagt diesen Satz auf, aber Ljoha (Yuriy Borisov) ist unbeeindruckt, nickt kaum merklich, lässt ihn erstmal so im Raum stehen.

Oder dieses Schweigen, wenn freundliche Fremde problematische Dinge sagen, man auf keinen Fall höflich zustimmen will, aber auch keinen offenen Widerspruch wagt. „Es muss hier irgendwo eine Fabrik geben, wo sie diese Typen in Massen produzieren“, sagt der finnische Rucksacktourist mit Gitarre Sasha (Tomi Alatalo) zu seiner Landsfrau Laura über den Russen Ljoha, Minenarbeiter.

Manches ist mir sehr fern: Murmansk zum Beispiel, wo die Laura hinmöchte, oder die Petroglyphen, die sie dort sehen will, oder die nicht näher bestimmte Zeit von Compartment No. 6, irgendwann zwischen dem Ende der Sowjetunion und dem Anfang von Smartphones. Oder eben dieser Ljoha, mit dem ich auch erstmal kein Gespräch anfangen könnte, so welt- und menschenoffen ich auch immer sein will.

Compartment No. 6 ist eine Art Before Sunrise (1995) mit zusätzlichen Hindernissen. Nicht unterschiedliche Ziele stehen einem Kennenlernen zwischen Laura und Ljoha im Weg, sondern ganz eindeutig Klassenschranken. Als Laura am ersten Abend ins gemeinsame Abteil kommt, das sie nach dem Einrichten direkt in Richtung Speisewagen verlassen hatte, ist Ljoha schon ziemlich hacke, haut nationalistische Sprüche raus und überschreitet schon bald persönliche Grenzen. Dass der Film von hier aus tatsächlich irgendwann bei jenem generischen Moment landet, in dem die eine lächelnd die Notiz, die der andere zum Abschied geschrieben hat, ausfaltet und liest, und sich diesen Moment auch noch verdient hat, ist ein kleines Wunder.

Dass das funktioniert, hat sichtlich mit den beiden Hauptdarstellern zu tun, aber vielleicht auch damit, dass Regisseur Juho Kuosmanen neben seinem scharfen Sinn für die feinen Unterschiede auch weiß, dass es häufig etwas Drittes braucht, damit zwei sich verstehen. Kein Wunder also, dass Laura und Ljoha das erste Mal miteinander ins Gespräch kommen, als für kurze Zeit eine Familie mit nervigen Kindern ins Abteil steigt. Dass sie erstmals miteinander saufen und lachen, als sie bei einem nächtlichen Stopp eine alte Freundin von Ljoha besuchen. Und dass Laura erst durch die Bekanntschaft mit Gitarrendude Sasha klar wird, dass man die, die einem auf den ersten Blick ganz nah scheinen, vielleicht besser auf Distanz hält, und vice versa.

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