Berlinale 2011: Eine langsame Scheidung und ein angeblich langweiliger Klassiker
Besuch ist eingetroffen; A. kommt aus Hamburg nach Berlin, um Berlinale-Luft zu schnuppern. Was für mich bedeutet: ein Tag außerhalb des Pressezirkus und der professionellen Filmbetrachtung. Vorstellungen mit ganz normalem Publikum, das viel direkter auf das Gesehene reagiert. Mit bezahlten, von mir unter einigen Mühen besorgten Karten. Auf dem Programm stehen der koreanische Wettbewerbsbeitrag Come Rain, Come Shine von Lee Yoon-ki am Nachmittag im Berlinale-Palast, abends dann der restaurierte Taxi Driver (1976) im Friedrichstadtpalast.
In Come Rain, Come Shine sitzen ziemlich viele Koreaner im Publikum, die auch richtig klatschen und kreischen, als die beiden Hauptdarsteller Lim Soo-jung und Hyun Bin auf die Bühne kommen. Die sind in ihrem Heimatland nämlich Superstars. Sie spielen ein junges Ehepaar, das gerade dabei ist, sich zu trennen. Viel passiert nicht in dem Film. Die Frau packt Dinge ein und sortiert Bücher aus, und nach einer Viertelstunde denkt man bei sich: Wenn die das in diesem Tempo weitermacht, wird die Scheidung noch bis zur Goldenen Hochzeit dauern. A. schaut hin und wieder zu mir herüber, traut sich aber nicht zu fragen, ob wir nicht lieber irgendwo ein Bier trinken können.
Nach gut 20 Minuten verlassen die ersten Zuschauer tatsächlich den Saal. Das sind allerdings keine Koreaner, aber vielleicht bleiben die auch nur aus Nationalstolz sitzen. Die ersten, die gehen, sind vielmehr die drei Inder rechts neben uns. Wieso gehen ausgerechnet die Inder zuerst? Was hat ihnen nicht gefallen? Vor allem: Was hat ihnen schlechter gefallen als den Deutschen, Franzosen, Briten oder Finnen? Mögen Inder keine Filme, in denen nach der ersten Viertelstunde noch immer niemand in bunte Tücher gekleidet gesungen und getanzt hat? Und mögen Deutsche Come Rain, Come Shine, weil sie denken, dass die Berliner Schule endlich zum Exportschlager geworden ist? Die Finnen wiederum, Kaurismaki-gestählt, fühlen sich sowieso pudelwohl, wenn es immer regnet und niemand etwas sagt. In dem Film regnet es nämlich die ganze Zeit, eine Tatsache, die ich anprangern muss. Einen Film Kommt Regen, kommt Sonnenschein zu nennen, und dann gibt es bis auf einen kurzen Moment überhaupt keine Sonne, das ist hinterhältig.
A. ist dann froh, dass er den zweiten Film, den ich ausgesucht habe, schon lange kennt und schätzt. Taxi Driver wird in einer restaurierten Fassung als 4K-Produktion gezeigt, was einfach gesagt „in noch nie da gewesener Bildqualität“ heißt. Das Bild sieht in der Tat kristallklar aus, man kann die Wassertropfen (auch hier regnet es) an Travis’ Taxi zählen.
Vor uns sitzen zwei Mittzwanziger, von denen einer sich kurz vor Beginn der Vorstellung umdreht, als er A. und mich über den Film reden hört. „Ich habe den noch nie gesehen“, sagt er in offensichtlicher Vorfreude, und dass ein Kollege „aus der Agentur“ ihm die Karten in die Hand gedrückt habe, mit dem Hinweis, es handele sich um einen großartigen Klassiker der Filmkunst. „Ich beneide dich“, kann ich noch sagen, in Erinnerung an die eigene erste Sichtung vor vielen Jahren, dann geht der Vorhang zur Seite.
Es verlässt zwar niemand den Saal, aber dass die Geschmäcker sehr verschieden sind, ist auch hier offensichtlich. Die Körpersprache der beiden aus der Reihe vor uns lässt zunehmende Unruhe erkennen. Während Robert De Niro seine bedrohlichen Fitnessübungen macht, leuchtet ein iPhone auf, es werden Facebook-Nachrichten verschickt. Schließlich lesen beide bei Wikipedia nach, was an dem Film so toll sein soll. Ich bin perplex. Kann es sein, dass Taxi Driver, immerhin 35 Jahre alt, aus der Zeit gefallen ist und ein heutiges Publikum nicht mehr anspricht?
Beim Abspann lehne ich mich nach vorne und frage nach. „Nee, sorry“, lautet die Antwort, „ich fand den total langweilig.“ Dann schiebt er noch die kürzeste Filmkritik hinterher, die ich auf diesem Festival gehört habe: Es passiere fast nichts, die Musik – also die berühmte Saxofon-Melodie von Bernhard Herrmann – sei nach gewisser Zeit nervtötend, und die Geschichte brauche zu lange, um in Fahrt zu kommen.
Keine Ahnung, was die Inder dazu gesagt hätten.
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