Aufbruch in Cannes: Goldene Palme für Titane

Zum ersten Mal in 74 Ausgaben gewinnt eine Regisseurin allein die Goldene Palme. Titane von Julia Ducournau ist das Gegenteil von einem Kompromiss: radikal, aufregend, monströs.

2021 geht in die Festivalgeschichte ein. Bis heute hatte ein einziges Mal das Werk einer Regisseurin die höchste Auszeichnung beim Festival von Cannes erhalten: 1993 teilte sich Jane Campion die Goldene Palme für Das Piano mit Chen Kaige für Lebewohl, meine Konkubine. 2021 erhält zum ersten Mal der Film einer Regisseurin diese Ehrung alleine: Titane von Julia Ducournau. Die Französin wird damit für ihren zweiten Spielfilm ausgezeichnet, der als einziger Genrefilm im Wettbewerb des wichtigsten Filmfestivals der Welt lief.

In ihrer Dankesrede betont Ducournau, ihr Film sei nicht perfekt, um dann zu erklären, dass sie erkannt hat, dass das Perfekte nicht nur unerreichbar ist, sondern eine Sackgasse. Die Juryentscheidung betone eine Offenheit für das Fluide, für eine Abkehr von binären Geschlechternormen. Tatsächlich setzt die Jury unter Leitung von Spike Lee mit diesem Preis in vielerlei Hinsicht Zeichen: Titane ist ein Film voller Gewalt, rau und dennoch zärtlich, poppig und dramaturgisch offen für Interpretationen. Die Geschichte einer Serienmörderin, die sich als vermisster Junge neu erfindet, ist alles andere als das, was im Arthouse- und Festival-Kino üblicherweise reüssiert. Es ist dafür ein sehr kinetischer Film, der Bewegungen feiert und körperliche Erlebnisse nachempfindet.

Die Jury setzt mit dem eigenwilligen Film auch eine Verbindungslinie zu 2019, dem letzten in Präsenz abgehaltenen Festival vor der Corona-Pandemie, bei dem ebenfalls ein Genrefilm ausgezeichnet wurde: Bong Joon-hos Parasite. Überhaupt hat die Jury, der neben Spike Lee unter anderen Kleber Mendonça Filho und Mati Diop angehörten, aus einem sehr durchwachsenen Wettbewerb die herausragenden Filme mit glasklarem Blick ausgewählt. Das zeigt sich nicht nur an den Preisen für große Highlights wie Drive My Car von Ryusuke Hamaguchi, der für seinen melodramatischen Liebes-, Kunst- und Autofahrt-Reigen mit dem Preis für das beste Drehbuch geehrt wurde, oder den Preis für die Beste Regie für Leos Carax’ Annette.

Auch die weiteren Preise treffen Filme, die es dem Publikum nicht immer leicht machen: Dazu gehören nicht zuletzt Apichatpong Weerasethakuls Memoria und Nadav Lapids Ahed’s Knee, die beide auf ihre je eigene Art Sehkonventionen reflektieren und enttäuschen. In der Diversität der Preisträger spiegelt sich zudem ein breites Verständnis vom Medium Kino, wie der von seinem minutiösen und spannenden Drehbuch getragene Film A Hero von Asghar Farhadi zeigt, der einen großen Preis der Jury erhält.

Besonders bemerkenswert ist, wie die Jury in ihrer Preisvergabe auch die vielen Filme im Wettbewerb umschifft, die althergebrachte, zum Teil sogar reaktionäre Perspektiven vertreten. Sie brauchen jetzt nicht mehr aufgezählt zu werden. Denn das kleine Wunder von Cannes 2021 ist vollbracht: Die historische Ausgabe inmitten der Corona-Pandemie konnte stattfinden und weist dabei auch noch in die Zukunft eines Kinos, das so lebendig wie unvollkommen ist.

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