(Ganz) Junge Kritik: Das Fremde in mir
Gefangen im „Glück“?
Rebecca ist eine junge, selbstständige Frau, und glücklich in ihrer Beziehung. Sie und ihr Mann Julian erwarten voller Vorfreude ihr erstes Kind. Die Geburt ihres Sohnes Lukas löst eine unerwartete Wendung aus: Rebecca leidet an einer postnatalen Depression, die es ihr unmöglich macht, ihr Kind zu bemuttern und zu lieben. Eine psychologische Behandlung soll ihr helfen, ihr Problem zu bewältigen.
Der Schauspielerin Susanne Wolff gelingt es gut, die Emotionen, die die junge Mutter bewegen, rüberzubringen. Zahlreiche parallele Montagen verdeutlichen den Kontrast zwischen den Gefühlen vor und nach der Geburt. Nichtsdestotrotz schafft es die Regisseurin Emily Atef nicht den Zuschauer wirklich in die Geschichte mit einzubinden. So kann das gravierende Problem für manche der Zuschauer zu oberflächlich erscheinen. Der Film geht den wahren Beweggründen und den psychischen Aspekten nicht genug auf den Grund. Gezeigt wird eine verständnislose Gesellschaft sowie einen anscheinend „blinden“ Ehemann, hinterfragt werden die Gründe dieser Abneigung jedoch nicht. Letzten Endes scheint die Erwartung an ein glückliches Leben zu übertrieben. Der Plot basiert auf dem puren Egoismus, sein eigenes Glück zu finden.
Kritik von Sophie Funke und Lara Gretscher (Deutsch- Französisches Gymnasium, Saarbrücken)
Kein Einzelfall: Fremde
Tot wirkend und mit Erde bedeckt liegt eine junge Frau mitten im Wald; neben ihr umgestürzte Bäume. Ihr lebloses Gesicht spiegelt ihre Gefühlswelt der letzten Wochen wieder. Die Diagnose: Postnatale Depression, eine psychisch und hormonbedingte Krankheit.
Es handelt sich um die 32 jährige Rebecca (Susanne Wolff), die in einem gefestigten sozialen Umfeld lebt, und keinerlei Gefühle für ihr neugeborenes Baby Lukas entwickeln kann. Ihr Mann Julian (Johann von Bülow) verbringt zunächst noch die meiste Zeit in seinem Büro und bekommt dadurch nur wenig von den Annäherungsschwierigkeiten zwischen Rebecca und Lukas mit. Auch Lore, die Mutter der Depressiven lebt zur Zeit in Toronto und kann ihre Tochter vor Ort nicht unterstützen, wobei diese Hemmungen hat, über ihre Gefühle und Empfindungen zu sprechen. Die Situation spitzt sich zu, als Rebecca den Gedanken verspürt, ihren Sohn umbringen zu wollen; beim Baden taucht sie diesen unter Wasser, doch merkt, dass sie ihn vor sich selbst schützen muss. Sie rennt in den Wald. Nach ihrem Suizidversuch wird sie psychologisch behandelt und vielseitig betreut.
Klischeeartig haben alle gutmeinenden Helfer eine andere Erwartungshaltung gegenüber Rebecca und ihrer Krankheit. Der Psychologe ist ein älterer Herr, fast schon eine Vaterfigur. Oder auch die feministische Physiotherapeutin, die die Schuld der Depression bei der egoistischen und rücksichtslosen Männerwelt sieht. Das typische Mutterbild taucht auf, als Lore plötzlich anreist um ihrer Tochter zu helfen und Beistand zu leisten. Julians Schwester und dessen Vater hingegen haben keinerlei Verständnis für die Probleme der jungen Frau, da sie das eingefleischte Bild der ausnahmslosen Mutterliebe haben. Die Beziehung zwischen Julian und Rebecca bricht trotz guten Willens beider auseinander; Kommunikation ist noch weniger möglich.
Entsprechend kurz sind auch die Dialoge, die vor allem Susanne Wolff durch sehr gute schauspielerische Leistungen ausfüllt. Auf die Hintergrundmusik, die sonst eine Szene interpretiert, wird fast komplett verzichtet. Unmittelbare, oft mobile Führung der Kamera mit Großaufnahmen auf die Mimik der Protagonistin orientieren den Zuschauer.
Der Film spricht ein Thema an, was in der Gesellschaft taburisiert ist, obwohl jeder von uns sich im Klaren darüber sein sollte, dass die Krankheit jede Frau treffen kann, unabhängig von sozialer Herkunft und Abstammung.
Zehn bis zwanzig Prozent der Mütter in Deutschland spüren „das Fremde“ in sich, ein fremdes Kind und fremde Gefühle…
Kritik von Daniel Muscheid und Janice Thelen (Neuwied)
Mutterunglück
Grau. Verstörend. Ausgehend vom perfekt geplanten Familienglück entwickelt sich Emily Atefs Film Das Fremde in mir zu einem emotionalen Alptraum. Unaufgeregt, in tristen Grautönen, mit wackliger Handkamera gefilmt und beinahe ohne musikalische Untermalung, wird die Geschichte der jungen Mutter Rebecca (Susanne Wolff), die sich von ihrem neugeborenen Kind eingeengt fühlt, erzählt. Trotz einer, mehr als intakten Beziehung zu ihrem Freund Julian (Johann von Bülow) isoliert sie sich zunehmend und wird von der Belastung, eine schlechte Mutter zu sein, zu einem Selbstmordversuch getrieben. Postnatale Depression lautet die Diagnose und Rebecca versucht verzweifelt einen Zugang zu dem ihr fremden Kind zu entwickeln. Helfen lassen will sie sich nur von ihrer Mutter, zu der sie einen engen Kontakt pflegt. Diese Beziehung hebt Rebeccas Aversion gegenüber ihrem Sohn noch deutlicher hervor und zeigt, dass solcherlei Probleme in jedem sozialen Milieu auftreten können.
Emily Atef plädiert mit ihrem Film für einen offeneren Umgang mit dem, vor allem in Deutschland totgeschwiegenen Problem der Entfremdung vom eigenen Kind, an der laut der Regisseurin 10-20 Prozent aller Mütter leiden.
Durchgehend auffällig ist der Bezug der Charaktere zum Leben spendenden Element Wasser. So steigt Rebecca etwa während ihrer depressiven Phase komplett bekleidet in einen See, spielt mit dem Gedanken ihr Kind beim täglichen Bad zu ertränken und spült sich nach einem Streit mit Julian in der Dusche den Mund aus.
Aufgrund der höchst eigenwilligen Dramaturgie lässt Das Fremde in mir den Zuschauer verstört und ratlos zurück, und zwingt auch den männlichen Teil des Publikums ein Thema zu reflektieren, mit dem er sich unter normalen Umständen niemals auseinandersetzen würde.
Kritik von Marius Lang und Moritz Bürger (Hölderlin-Gymnasium, Nürtingen)
Völlig aus der Bahn gelaufen
So könnte man das Leben der jungen Floristin Rebecca beschreiben. Schon in den ersten Szenen wird deutlich, wie zerrissen und durcheinander ihr Leben ist. Die unruhigen Kamerabewegungen untermauern diesen Eindruck. Eine junge Frau, vollkommen verwirrt und ziellos durch den Wald laufend, scheinbar auf der Flucht. Doch vor wem? Dazu häufige Rückblicke in das noch perfekte Leben während der Schwangerschaft, in der die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft mit dem Vater des Kindes Julian (Johann Von Bülow) näher gebracht wird, erzeugen bei dem Zuschauer Verständnislosigkeit.
Als Rebecca (Susanne Wolff) einen gesunden Jungen auf die Welt bringt, scheint ihr Glück perfekt. Doch statt der bedingungslosen Liebe, die sie erwartet hat, reagiert sie total emotionslos. Der steigende Druck löst bei ihr eine Panik aus und die Wut auf sich selbst und die Angst, ihrem Kind etwas antun zu können führt zur Flucht. Schon bei der Geburt wird die Abneigung zu ihrem Sohn Lukas offensichtlich. Sie kann es nicht mal ertragen ihn anzugucken und ist ratlos im Umgang mit ihm. Weiterhin nimmt sie Distanz zu ihrem Sohn, sowie zu ihrem Lebensgefährten Julian, der die normale, eigentlich von ihm erwartete Vaterrolle übernimmt, fällt auch in ein tiefes Loch der Ratlosigkeit. Die einzige Hilfe in dieser scheinbar auswegslosen Situation ist die Mutter Rebeccas, die ihr dabei hilft, auf behutsame Art und Weise, sich selbst zu akzeptieren.
Dieses Thema, der post-natalen Depressionen, heute noch in vielen Gesellschaften tabuisiert, wird durch diesen Film von Emily Atef vielschichtig reflektiert. Während des gesamten Filmes bezieht sie auch das Umfeld der Protagonistin mit ein und kehrt in der Schlussszene auf das zu Anfang vom Zuschauer eigentlich erwartete Bild von Mutter, Vater und Kind, wenn auch gebrochen, zurück.
Kritik von Anke von Appen und Roland Koch (Oranienburg)
Das Fremde in mir (L’étranger en moi); Deutschland 2008; 99 Minuten; Regie: Emily Atef; Drehbuch: Emily Atef, Esther Bernstorff; Produzent: Nicole Gerhards; Mit Susanne Wolff, Johann Von Bülow, Maren Kroymann, Hans Diehl, Judith Engel, Herbert Fritsch
Diese Kritiken sind entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2008.
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