Vom Über-Blick zur Superzeitlupe

Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender preisen alle möglichen Second Screens an, mit denen sie das Fußballspiel aus anderen Perspektiven zu erschließen suchen. Doch auch beim Fußball stellt erst die Form den Inhalt her. Eine Bildanalyse zur EM von Till Kadritzke.

Mindestens einmal pro Spiel darf der Kommentator (oder, seit dieser EM erstmals, die Kommentatorin) die Zuschauer an den Geräten darauf hinweisen, dass sie sich nicht mit der halbhohen seitlichen Perspektive auf das Spiel, wie sie uns im Verlaufe der Jahrzehnte in Fleisch und Blick übergegangen ist, begnügen müssen. Während die Zeitlupen immer langsamer werden, immer genauer einzelne Bewegungen zu enthüllen suchen, versprechen Zusatzperspektiven Über-Blicke. Also schnell Smartphone oder Tablet gezückt, den Laptop aufgeklappt, und nach ein paar Klicks stehen diverse Cams zur Verfügung, auf dass sich das Spiel nun umfassender, intensiver ausleuchten lasse als bislang – auf dass sich endlich die ganze Wahrheit des laufenden Matches enthüllt. Möglichst genaue Annäherung an die Realität durch die Vervielfältigung der Blicke also? Nun wissen wir, dass bewegte Bilder nicht einfach „die“ Realität repräsentieren, sondern eine eigene herstellen. Das ist bei Fußballbildern nicht anders. Was sehen diese Bilder also, welche Ideen vom Spiel nähren sie, was für Räume produzieren sie?

Die Coach-Cam: Auteur-Theorie des Fußballs

Die Coach-Cam dürfte schon mal dafür sorgen, dass sich die Trainer dieser Welt fortan zusammenreißen müssen, wenn es im Schritt juckt. 90 Minuten lang sind hier im Split-Screen-Verfahren die Übungsleiter der beiden Mannschaften zu sehen, unten rechts ist ein dritter kleiner Rahmen mit dem laufenden Spiel eingeblendet. Die Bilder werden also ganz und gar von den Bewegungen der jeweiligen Trainer determiniert, und je nachdem, ob nun der wild durch seine Zone coachende Italiener Conte oder der sich fatalistisch den Ballgöttern ergebende Spanier del Bosque dran ist, gemahnt die Coach-Cam an den Protagonisten-Magnetismus der Dardennes oder eher an den interesselosen Blick von Warhol-Filmen.

Zugleich folgt die Coach-Cam gewissermaßen einer Auteur-Theorie des Fußballs, in der die Kontingenzen des Geschehens auf dem Rasen als Ausdruck des einzelnen Genies erscheinen. Das Fußballspiel stellt sich dar als akkurate oder scheiternde Ausführung eines Plans, als erfolgreiche oder erfolglose Übertragung taktischer Ideen und psychologischer Motivation eines Regisseurs auf seine Darsteller. Mit kontinuierlichem Feedback, denn das Bild der Coach-Cam drängt das eigentliche Geschehen zwar nach unten in die Ecke, aber aus dieser Ecke strömen ja fortwährend (kaum erkennbare) Ereignisse nach oben, die die Protagonisten zum Jubeln und Verzweifeln bringen, zum Umdenken und zum Handeln zwingen.

Die Spider-Cam: Verweis aufs Außen

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Nichts könnte weiter von diesem Bild des Fußballs entfernt sein als jenes der Spider-Cam, die man auch im konventionellen Fernsehbild immer mal wieder als schwarzes Etwas durch die Luft fliegen sieht. Aus dieser äußerst belebten Vogel/Drohnen-Perspektive erscheint das Spiel als ein ziemlich unverständliches und zufälliges Treiben auf dem Planeten Erde. Nichts ist hier mehr geplant, die Bewegungen der Kamera sind ähnlich erratisch wie die des Balles, der uns manchmal in 3D entgegenzufliegen scheint. Die Abstände zwischen den Spielern sind deutlich kürzer als im larger-than-life-Weitwinkel des Fernsehbildes, das Spiel dadurch entzaubert als körperliche Aktivität auf einem Rasen. Anders als in den strengen Rahmungen der Coach-Cam wird hier ständig auf ein Außen verwiesen; leicht könnte man sich vorstellen, wie diese Kamera in einer ihrer fliegenden Bewegungen über das Stadion hinausschießt, über Berge und Täler und Städte, wo ganz andere Menschen ganz anderen Tätigkeiten nachgehen (aber natürlich gucken sie alle Fußball).

Die Taktik-Cam: Die Mannschaft als Maschine

Die Taktik-Cam ist ebenfalls weit oben, aber starr befestigt, hinter einem der Tore. Das sorgt im Vergleich zum konventionellen Fernsehbild für eine folgenreiche Drehung um 90 Grad. Wir sind nun nicht mehr Zuschauer, die neutral von der Seite auf den Kampf zwischen links und rechts blicken, sondern befinden uns selbst in Angriffs- und Verteidigungshaltung, müssen vertikal denken. Statt Bewunderung im Profil nun Identifikation mit der Blickachse der Akteure: am Horizont das zu belagernde Ziel, im Vordergrund die stets per Konter verwundbare Heimatfront.

Nicht nur lassen sich hier die Systeme der Mannschaften studieren – 4-2-3-1 und 3-5-2 werden von abstrakten Zahlenfolgen zu konkreten Anordnungen –, das Spiel selbst ist nun erkennbar als Kampf zwischen Kollektiven. Im Gegensatz zu den scheinbar ungerichteten Bewegungen aus der Spider-Cam erscheint aus der weiten Ferne der Taktik-Cam die Fußballmannschaft als eine einzige Maschine, die über die stetige Veränderung der Abstände zwischen ihren einzelnen Elementen auf das Spiel einzuwirken versucht. Die Maschine verschiebt sich nach links und rechts, nach vorn und nach hinten, vor allem aber kontrahiert oder expandiert sie – zeigt auch nochmals, wie realitätsfern der beliebte Fußball-Diss ist, dass hier zweiundzwanzig erwachsene Männer einem Ball hinterherrennen. Es geht um die Verteilung von zweiundzwanzig Männern in einem von außen abgesteckten Raum, der von innen jedoch fortwährend neu produziert wird.

Der Produzent dieses Raumes ist freilich der Ball, dem eben nicht hinterhergerannt wird, sondern der eine stetige Umverteilung organisiert, gemeinsamer Motor beider Maschinen. Dieser Ball ist für die weit entfernte Taktik-Cam ein Problem, aufgrund seiner Größe, aber auch, weil sich die Richtung seiner Bewegungen aus der vertikalen Perspektive immer wieder als trügerisch entpuppt. Als geheimer Organisator ist der Ball hier also nahezu unsichtbar und manifestiert sich doch in sichtbaren Bewegungen. Was die Taktik-Cam aufzeichnet, sind keine agierenden Maschinen, sondern reagierende. Auch wenn ihre einzelnen Elemente das Spielgerät zu beeinflussen suchen, müssen sie sich doch immer wieder dessen Einfluss beugen. Die Taktik-Cam produziert also ein Bild der Wirkungen, dem das zugrundeliegende Ereignis fehlt.

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Coda: Superzeitlupe

Wenn oft gnädig gemahnt wird, der arme Schiedsrichter habe nicht die Fernseh-Wiederholungen zur Verfügung, dann heißt das erst mal ganz schlicht: Er hat kein Bild. Er kann nicht nach dem Punkt der Berührung suchen, sondern muss die Veränderungen der Bewegungen erkennen und die Kräfte verstehen, die diese Veränderungen hervorgebracht haben. Die Zeitlupe verlangsamt also nicht nur, sie leugnet die kinetische Energie des Spiels, sucht nach dem Punkt, nicht nach der Krümmung der Linie.

Von Bewegung will die Zeitlupe jedenfalls nichts wissen, von Maschinen schon gar nichts. Sie interessiert sich nur für die einzelne Konfrontation zwischen Akteuren. Ihre Ausschnitte aus dem Ganzen interpretieren dieses Ganze als Abfolge intentionaler Handlungen von Individuen. In der Zeitlupe wird der Körper zum Geist, die Physik zur Psychologie. Aus affektiven Intensitäten wird eine Geschichte aus bösen Absichten, Schmerzen und Fehlern. Das kollektive Werden der Taktik-Cam weicht einer Welt individueller Agency: die Hand des Torwarts so nah am Ball, hätte er sich doch nur etwas mehr gestreckt. Den Ball beim Schuss etwas zu weit links getroffen, so ist er rechts am Tor vorbeigesegelt. Wissentlich das gegnerische Standbein umgenietet, schon der Blick davor sprach Bände. Beruhigend diese Einsicht, dass der Fußball den Gesetzen unserer Welt gehorcht.

Ein Bild für den Fußball

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Wenn die Taktik-Cam also letztlich die eigentümlichen Fußballaffekte verfehlt, weil sie zwar zu Recht den einzelnen Spieler dezentriert, das singuläre Ereignis aber nur in dessen maschinellen Auswirkungen fasst, zerstört die Superzeitlupe diese Affekte, um sie in verständliche Handlungen und nachvollziehbare Emotionen übersetzen zu können. Und die Trainer-Cam bindet noch diese zurück an ein Intelligent Design im Hintergrund. Muss das Fußballspiel sein Bild erst finden? Die Vervielfältigung der Blicke jedenfalls sorgt für keine Annäherung an seine Wahrheit, sondern eben nur für eine Vervielfältigung seiner Ideen. Von hinter dem Tor betrachtet ist dieser Fußball ein nach außen klar abgegrenzter Organismus, in dessen Innen sich zwei Maschinen bekämpfen, von der Drohne aus ein unverständliches Geschehen – und von ganz nah ein allzu menschliches Drama.

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