Verdrehte Fakten für die Berlinale-Debatte

Fakten-Check: Wie viel ist dran an der Behauptung der Branchenzeitschrift Blickpunkt:Film, Regisseure hätten nicht auf eigene Initiative einen Neuanfang bei der Berlinale gefordert? Über eine faule Desinformations-Kampagne.

Berlinale Palast

Die Fehlinformationen beginnen im ersten Satz und ziehen sich durch den gesamten Text. Ulrich Höcherl, Chefredakteur von Blickpunkt:Film, hat einen Kommentar geschrieben zur Debatte um die Berlinale-Nachfolge. Er glaubt, oder will glauben, die ganze Debatte sei von Kritikern initiiert und orchestriert, ein „abgekartetes Spiel“ sogar. Der Vorstand des Verbands der deutschen Filmkritik, dem ich angehöre, wird ebenfalls genannt. Das ist zu viel der Ehre und offenbart eine erstaunliche Geringschätzung des Fachblatts gegenüber Regisseurinnen und Regisseuren. Schauen wir uns den Text Satz für Satz an:

 

Ein Grüppchen Groß- und Dauerkritiker schickt ahnungslose Filmemacher vor, die Berlinale zu „revolutionieren“.

 

Falsch: Filmemacher haben sich, das können alle Beteiligten bestätigen, selbstständig zusammengefunden, um über die Zukunft der Berlinale nachzudenken. Die Initiative stammt von Regisseuren.

 

Während 79 Regisseure oder sonst irgendwie künstlerisch Tätige einen vorformulierten Text brav unterschreiben, kocht die Kritikerrunde ihr eigenes Süppchen.

 

Falsch: Formuliert wurde der Text von Regisseuren und Regisseurinnen. Dass kein Text von 79 Menschen zusammen geschrieben werden kann, ist klar, das Ergebnis ist aber eindeutig ein Kompromiss dieser sehr unterschiedlichen Leute. Richtig: Nicht alle Unterzeichner sind Regisseure. Wer wissen will, wieso, kann auch das erfahren. Sie sind jedenfalls nicht „sonst irgendwie künstlerisch Tätige“: Alle, die nicht Regisseure sind, sind Mitglied der Sektion Film- und Medienkunst der Akademie der Künste.

 

Nichts ist einzuwenden, für die Nachbesetzung des Berlinale-Leiters ein offenes und transparentes Verfahren zu verlangen.

 

Mit diesem Satz geht es offenbar darum, die Interpretation des Briefs als Distanzierung von der aktuellen Berlinale kleinzureden. Denn der Brief, den die 79 Filmschaffenden unterschrieben haben, fordert auch einen Neuanfang.

 

Dieser Forderung schließt sich auch Dieter Kosslick an, ...

 

Falsch: Dieter Kosslick hat Verständnis für den Wunsch nach einem transparenten Prozess der Neugestaltung der Berlinale geäußert. Hier kommt es aufs Detail an – denn keinesfalls hat er sich einer Forderung nach Transparenz und Offenheit für das Verfahren der Nachbesetzung seiner Position angeschlossen.

 

schließlich arbeitet er seit 16 Jahren dafür, dass die Berlinale wieder ein Festival von Weltgeltung wurde und das auch bleibt.

 

Falsch: Weltgeltung hatte die Berlinale vor dem Antritt von Dieter Kosslick sehr wohl. Richtig: Die Geltung der Berlinale innerhalb der deutschen Filmbranche war vor seinem Antritt mindestens umstritten.

 

Auch die Herrin des Verfahrens, Kulturministerin Monika Grütters, will den Wunsch niemandem verwehren.

 

Falsch: Bisher hat Kulturstaatsministerin (ein Kulturministerium gibt es im Bund bislang nicht) Monika Grütters keine Zustimmung für ein transparentes und offenes Verfahren signalisiert. Einer Diskussion will sie sich zwar öffnen, das bedeutet aber noch nicht, dass die Kriterien für die Berlinale-Direktion offengelegt werden und eine Ausschreibung stattfindet. Ob es eine Findungskommission geben könnte, war zuletzt offen, nachdem es im frühen Herbst noch hieß, dass diese eher unwahrscheinlich sei.

 

Aber die Suche ist noch am Anfang.

 

Nicht, wenn die Direktion bereits die kompletten Vorbereitungen der 2019er Ausgabe des Festivals erleben soll, die beginnen nämlich spätestens im Sommer 2018. Aus informierten Kreisen heißt es außerdem, dass die Entscheidung bis zuletzt noch für November 2017 geplant war. Angesichts der aktuell offenen Regierungsbildung ist es unwahrscheinlich, dass die Entscheidung ganz kurzfristig gefällt wird. Der Handlungsdruck, intern weiterzukommen, bemisst sich allerdings wohl eher in Wochen als in Monaten.

 

Gerade erst wird konzeptioniert und nachgedacht, für das größte Publikumsfilmfestival der Welt einen zusätzlichen künstlerischen Leiter zu installieren, wie sich das in Cannes bewährt.

 

Falsch: Thierry Frémaux ist seit 2007, also seit zehn Jahren, sowohl künstlerischer Leiter als auch Geschäftsführer und damit auch für die Verwaltung der Filmfestspiele zuständig. Zwar gibt es in Cannes den Posten eines Präsidenten des Festivals, dieser ist aber nicht für die Geschäftsführung zuständig, sondern vor allem für Fragen der strategischen Entwicklung, des Protokolls und der Zeremonien. Die Tätigkeit des Präsidenten ist im Übrigen kein Vollzeitjob.

 

Nur das Datum von Kosslicks Ausscheiden im Mai 2019 steht fest.

 

Falsch: Fest steht zwar, dass der aktuell gültige Vertrag dann ausläuft, aber in der Vergangenheit wurden die Verträge immer verlängert. Das kann also hier genauso passieren.

 

Keiner der mehr oder weniger illustren Unterzeichner wusste von der heimlichen Agenda der Initiatoren.

 

Falsch: Berichte aus den Kreisen der Unterzeichner berichten, dass es mehrere größere Treffen der Regisseurinnen und Regisseure gegeben hat, bei denen die unterschiedlichen Agenden diskutiert wurden und ein gemeinsamer Kurs erarbeitet wurde. Außerdem berichten sie von sehr regen E-Mail-Konversationen.

 

Weil sich weder hierzulande noch draußen in der Welt viele dafür interessieren, welchen Leinwandvorlieben die Filmtante von „Spiegel Online“ oder ihre Vorstandskollegen im Verband der deutschen Filmkritik frönen, …

 

Den Sexismus der drögen Bezeichnung „Filmtante“ einmal außen vor gelassen, muss man sich schon wundern, wie die Zeitschrift Blickpunkt:Film, die in ihren eigenen Mediadaten keine Angaben zur Auflage macht, die Reichweite der Filmberichterstattung von „Spiegel Online“ in Abrede stellt. Ansonsten: ad hominem. Nebenbei bemerkt:

Hannah Pilarczyk ist nicht Vorstands-, sondern Beiratsmitglied im Verband der deutschen Filmkritik.

 

... und sich ihr flammender Appell wohl digital versendet hätte, ...

 

Falsch: Der Appell vom Verband der deutschen Filmkritik für ein transparentes Nachfolgeverfahren mit Findungskommission, der im April verschickt wurde, wurde in diversen Medien gedruckt.

 

warb ein Ex-Kritiker und heute freundlich protegierter Vertreter der vom Publikum nie so recht entdeckten Berliner Schule Unterschriften namhafter Kollegen ein.

 

Falsch: Die Initiative der Regisseure stammt nicht von einem Regisseur, der der Berliner Schule zugerechnet wird. Sollte damit Christoph Hochhäusler gemeint sein: Er war auch nie Kritiker. Davon unabhängig ist auch das ein gegen eine Person gerichteter Diskreditierungsversuch.

 

Ein halbes Jahr war nötig, um alle zu überreden, ...

 

Falsch: Der im Frühjahr entwickelte Brief wurde bereits Anfang Mai der Kulturstaatsministerin überreicht. Richtig: Nach dem gemeinsamen Treffen im September hat es laut der Initiatoren mehrere Wochen gedauert, gemeinsam abzustimmen, ob, wie und wann der Brief auch veröffentlicht wird.

 

danach wurde der Aufruf in einer konzertierten Aktion mit Texten umrahmt, in denen unfair, ehrenrührig und völlig überzogen mit Kosslick abgerechnet wurde.

 

Falsch: Der Aufruf wurde zunächst von Spiegel Online veröffentlicht, etwa eine halbe Stunde später per Mail in die Welt geschickt. Es ist sicher falsch, die Autoren des Briefs für journalistische Texte verantwortlich zu machen, die auf dessen Grundlage erschienen sind. Der Text auf Spiegel Online jedenfalls beschäftigt sich mit der Berlinale unter der Leitung von Dieter Kosslick, nicht aber mit ihm als Person.

 

Die Älteren unter uns erinnern sich noch an die leicht angestaubte Veranstaltung, die er 2001 übernommen hat.

 

Jüngere und Ältere gucken aufs Programm und sehen in den Jahrgängen 2000 und 2001 eine lange Liste herausragender Filme.

 

Längst ist die Berlinale wieder wichtigster Wettbewerb nach Cannes und ein bedeutender Filmmarkt für alle Welt.

 

Hier scheint durch, die Berlinale habe als Wettbewerb an Wichtigkeit unter Kosslick gewonnen. Das ist zumindest fraglich, weil es bedeuten würde, dass er vorher unwichtiger war. Dennoch richtig ist, dass die Berlinale eine Zeit lang davon profitiert hat, dass Venedig in der Krise war. Unbestritten ist die Bedeutung des Filmmarkts.

 

Auch der vorher wenig sichtbare deutsche Film hat ihm viel zu verdanken.

 

Man muss dieses Verhältnis vom deutschen Film und der Berlinale differenziert betrachten, nicht zuletzt weil auch die Berlinale dem deutschen Film viel zu verdanken hat.

 

Die Welt sieht verwundert auf die wilden Attacken, hatte man sich mit dem kalten Berlin doch angefreundet.

 

Die Erwartungen internationaler Gäste an die Berlinale sind sehr unterschiedlich, sie sind sicherlich weniger leidenschaftlich als die hiesigen.

 

Die kalte Wut seiner Kritiker, die gerne selbst eine Rolle im Verfahren spielen wollen, stößt dagegen ab.

 

Eine Unterstellung, die die sachbezogene Kritik diskreditieren soll, als ginge es nur um eigene Pfründe.

 

Längst dürften die ersten Unterstützer ihre Mitwirkung bereuen.

 

Der Satz dürfte nicht umsonst im Konjunktiv verfasst sein. Immerhin haben aber mehrere Regisseure ihren Unmut darüber geäußert, wie die Debatte geführt wird.

 

Maren Ade oder Fatih Akin, um nur zwei Namen zu nennen, haben auf der Berlinale ihren Siegeszug angetreten.

 

Durch die Satzstruktur entsteht mindestens fahrlässig die Unterstellung, dass beide ihre Mitwirkung bereuen. Das ist bisher nicht belegt.

 

Der erfolglosere Rest muss erstaunt sehen, dass die Journaille nicht nur auf Kosslick herumhackt, ...

 

Unterstellung, die anderen Unterzeichner seien erfolglos bzw. erfolgloser, und als sei das ein Kriterium für die Bedeutung ihrer Belange.

 

sondern auch auf seiner befürchteten Nachfolgerin, Medienboard-Chefin Kirsten Niehuus, auch wenn sie sich nie für den Job beworben hat.

 

 

Wo es keine Ausschreibung gibt, kann sich auch niemand bewerben. Man wird vielmehr ins Gespräch gebracht. Ob das passiert ist, ist nicht öffentlich.

 

Dafür verhilft sie vielen auf der Liste immer mal wieder zu Fördergeldern nicht nur für Festival-, sondern auch für Regalware.

 

Kirsten Niehuus verwaltet als Chefin der Filmförderung Berlin-Brandenburg Steuermittel, die genau dafür da sind, Filme zu produzieren. Insofern ist das keine Leistung, für die Dankbarkeit erwartet werden sollte. Dass sie nicht nur an der Kinokasse und auf Festivals erfolgreiche Filme fördert, sollte ebenfalls nicht als Zeichen von Großmut gedeutet werden.

 

So viel blinder Eifer ist erstaunlich.

 

Unklar: Wessen Eifer ist hier blind? Der von Journalisten etwa, die eine vieldiskutierte Nachfolgeoption nennen?

 

Die Berlinale mag bessere Filme verdienen, bessere Kritiker in jedem Fall.

 

Für bessere Kritiker bin ich immer zu haben. Für mehr Fakten und weniger Falschbehauptungen in der Branchenberichterstattung auch.

Zum Nachlesen: Der Beitrag ohne Kommentare auf Blickpunkt:Film, Artikel auf Spiegel Online, mein eigener Beitrag zur Debatte bei der Berliner Zeitung

Copyright der Bilder: Metro Centric, Leander Wattig

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Kommentare zu „Verdrehte Fakten für die Berlinale-Debatte“

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