Schreiben über Film (4): "Premières solitudes", "Mes provinciales"
Kurzkritiken zu den Filmen Premières solitudes von Claire Simon und Mes provinciales von Jean-Paul Civeyrac, verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film – Berlinale 2018“ (Stiftung Universität Hildesheim).
Premières solitudes
Dann tanzen wir
Claire Simons Dokumentarfilm Premières solitudes handelt von Jugendlichen, die in ihrer Abgeklärtheit sehr erwachsen wirken.
Bevor es losgeht, binden sie sich ihre Sneaker zu. Die obligatorischen weißen Apple-Kopfhörer werden in die Ohren gestöpselt, die ersten WhatsApp-Nachrichten des Tages beantwortet. Mit dem Tippen auf den Display wird die Musik gestartet. Der Beat führt sie zum Fahrrad, zur Bushaltestelle und zur Métro-Station, über den Asphalt der Stadt Ivry. Die klobigen Rucksäcke schwingen bei ihren Schritten mit.

Unterrichtsstunden werden in dem Dokumentarfilm Premières solitudes von Claire Simon, der aktuell auf der Berlinale zu sehen ist, nicht gezeigt. Stattdessen konzentriert sich Simon auf die Flure, Treppenhäuser, Bänke und Dächer, die an einem französischen Gymnasium Schauplätze der philosophischen Gespräche zwischen Jugendlichen werden. Sie treffen in den Pausen und Freistunden aufeinander, sprechen über Geldsorgen, Krankheiten, Einsamkeit, die Scheidung der Eltern. „Wenn keine Liebe mehr da ist, kannst du kämpfen, wie du willst“, kommentiert ein Schüler an einer Stelle.
Ihren Erzählungen von Familien, die zerfallen und nicht mehr miteinander sprechen, stehen die Jugendlichen selbst gegenüber, die durchaus imstande sind, sich über ihre Probleme auszutauschen. Sie tun das, was sie sich von den abwesenden Erwachsenen wünschen, hören zu, stellen interessierte Fragen, ermutigen einander und zeigen Verständnis für ihr Gegenüber. Manchmal nehmen sie sich auch in den Arm. Die Kamera beobachtet all das unaufgeregt aus der Distanz.
Freundschaft, die erste Liebe und der Umgang mit dem eigenen Körper werden ebenso thematisiert wie die Angst und Neugier auf das, was die Zukunft bringt. Werden wir es besser machen als unsere Eltern? Und werden wir irgendwann in Paris wohnen? Auf den Dächern der Schule mit Blick über die Stadt diskutieren die Jugendlichen Lebensentwürfe, Kinderwünsche und die Hoffnung, für immer zusammen zu bleiben. „Das Leben ist hart, oder?“, sagt eine Schülerin. Die anderen nicken. Eine andere Schülerin lächelt, zwischen ihren Lippen erscheint eine Zahnspange.
(Anne Küper)
Von der Vielzahl der Einsamkeiten
Wenn „Alors on danse“ in Filmen läuft, bedeutet das eigentlich immer zweierlei. Einerseits, dass es um Themen geht, die mit Liebeskummer und metallenen Zahnspangen zu tun haben. Andererseits, dass alles nicht so schlimm ist.

In Claire Simons neuem Dokumentarfilm wird „Alors on danse“ gleich zweimal gespielt. Es geht um Jugendliche, enge Jeans und tatsächlich um Zahnspangen, auch um Liebeskummer und die schwierige Beziehung zu den Eltern. Allerdings haben die Schwierigkeiten hier nichts mit vergessenen Hausaufgaben oder versteckten Zigarettenschachteln zu tun. Die Teenager, die die Oberstufe eines Gymnasiums in einem Pariser Vorort besuchen, reden über Einsamkeit, die Angst vor dem Alleinsein, den Verlust von Selbstkontrolle in Beziehungen. Über die Abwesenheit des eigenen Vaters, die psychische Erkrankung der Mutter, den Wunsch nach eigenen Kindern und die Hoffnungen für die Zukunft.
Sie unterhalten sich vor allem im Schulgebäude, meist zu zweit oder dritt, und artikulieren ihre Ängste, Sorgen und Unsicherheiten dabei mit einer Ernsthaftigkeit, die sehr erwachsen wirkt. Beinahe ein wenig zu erwachsen, was auch an dem kamerabewussten Verhalten der Jugendlichen liegt. Indem die Kamera in ihrer beobachtenden Funktion immer eine gewisse Distanz einhält, die Gespräche von vorne zeigt, bleibt sie in der Sichtweite der Teenager und lässt diese sehr kontrolliert agieren.
Nur manchmal verlässt die Kamera ihre Position, bewegt sich im Raum und zeigt kurze Momente, in denen auch die Jugendlichen gelöster wirken. Zum Beispiel, wenn sie nach einem Gespräch die Treppe hinunterrennen oder kichernd bei einem Foto-Shooting in den Schulgängen gezeigt werden. Das zeigt, dass „Alors on danse“ auch zu diesem Film passt. Denn obwohl Einsamkeit hier sogar im Plural auftritt, kann in manchen Momenten darüber hinweggetanzt werden.
(Leonie Lorena Wyss)
Mes provinciales
„Du liebst das Kino und opferst alles“
In Jean-Paul Civeyracs neuem Film Mes provinciales gibt ein Student sich seiner Leidenschaft für den Film und die Stadt Paris hin.

„Glaubst du, Film kann den Planeten retten?“, fragt Annabelle mit hochgezogenen Augenbrauen. Ja, Mathias glaubt daran, dass ein Film ebenso politisch wie eine Demonstration ist. Er ist cinephil und radikal in seinen Ansichten. Die Aktivistin Annabelle hingegen findet, er habe den Bezug zum echten Leben verloren. Als Mathias gegangen ist, setzt sich einer der Studenten an das Klavier und spielt ein Stück von Gustav Mahler, während ein anderer bemerkt, dass der Wein leer sei.
Protagonist des Films Mes provinciales ist eigentlich Étienne, der aus Lyon nach Paris zieht, um dort Filmregie zu studieren. Am Bahnhof verspricht er seiner Freundin, sich oft bei ihr zu melden, aber erst einmal angekommen, ist dieser Vorsatz schnell vergessen. Étienne verliert sich in Vorlesungen, Diskussionen und Partys und philosophiert bis spät in die Nacht beim Wein mit seinen neuen Freunden über Filmkunst. Zu viele Versuchungen ergeben sich in der Stadt der Liebe. Zudem entwickelt Étienne eine regelrechte Obsession für Mathias, von dessen Meinung er seine eigenen Filmprojekte abhängig macht. Doch der andere ist verschlossen und verschwindet oft für mehrere Wochen, um im Geheimen zu arbeiten.
Wie sein Protagonist machte sich Regisseur Civeyrac nach einem Philosophiestudium in Lyon auf den Weg, um in Paris Filmregie zu studieren. In nostalgischem Schwarzweiß zeigt Mes provinciales die Wohngemeinschaften, Universitätsgebäude, Cafés und Parkanlagen der Gegenwart. Es erklingen Kompositionen von Mahler und Bach. Die Figuren lesen und rezitieren Flaubert und Novalis. Mes provinciales ist eine Hommage an das Studium der sogenannten Schönen Künste. Und liefert zugleich mit vielen bildungsbürgerlichen Bezügen das Porträt eines idealisierten Intellektuellenmilieus.
(Hannah Kattner)
Eigenwillige Nähe zur Wirklichkeit
Mes provinciales von Regisseur Jean-Paul Civeyrac zeigt in schönen Schwarzweiß-Aufnahmen eine melancholische Studie über erste Lebenserfahrungen. Zugleich ist es eine Liebeserklärung an das klassische Kino und an die Stadt Paris.

Voller Erwartungen kommt Etienne aus Lyon in die französische Hauptstadt. Er will Filmregie studieren und lässt seine Freundin Lucie mit dem Versprechen zurück, sich regelmäßig per Skype zu melden. An der Universität trifft er auf Jean-Noël und Mathias, die ebenfalls aus kleineren Städten kommen. Während sich Jean als umgänglicher Freund erweist, der Etiennes fragiles Selbstbewusstsein zu stärken versucht, wirkt Mathias oft streng, unnahbar und geheimnisvoll. Alle drei teilen aber dieselbe Leidenschaft fürs Kino, und so diskutiert man über Filmklassiker, liest Texte von Flaubert und Pasolini, hört Bach und Mahler. Im Laufe des Films werden aus den Freunden Kollegen und Rivalen. Sie genießen das Leben weit weg von zu Hause. Verlieben sich in ihre Mitbewohnerinnen und sind bereit, für alles einen Preis zu zahlen.
Über vier Akte bringt der Film sein Zuschauer ganz nah an die Figuren heran. Man taucht mit ihnen in das Studentenleben in Paris ein, lässt sich treiben und entdeckt mit Etienne die Liebe, die Kunst und das Leben. Bis zu dem Moment, als ihm in aller Härte seine Grenzen aufgezeigt werden. Es ist die eigenwillige Nähe zur Wirklichkeit, die diesen Film sehenswert macht. Eine Geschichte mit autobiografischen Verweisen auf den Regisseur Civeyrac, der an der berühmten Filmhochschule La Fémis in Paris lehrt. Der ein Liebhaber des klassischen europäischen Kinos ist. Und ein Meister darin, es wieder auferstehen zu lassen.
(Eric Voigt)
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