Schreiben über Film (3): Töchter

Drei Rezensionen über den Film Töchter (2014, Regie: Maria Speth; D 2014), verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film – Berlinale 2014“

 

Toechter 03

Staub, Nebel, Grau. Ein Auto hält an, eine jammernde Frau wird auf die staubige Straße geworfen. Die nackte Leiche eines Mädchens wird auf einen Obduktionstisch gelegt. Eine Mutter reist nach Berlin, um ihre von zu Hause weggelaufene Tochter zu finden. Die Puzzlestücke werden verbunden und ergeben eine Geschichte, bei der sich erst am Ende alle Teile verbinden. Es ist eine Geschichte von Mutter und Tochter, die Geschichte von Agnes und Ines, die nicht Mutter und Tochter sind.

„Glaubst du an Zufälle? Ich glaube nicht an Zufall“, sagt Ines zu Agnes, als die beiden sich durch einen Unfall begegnen. Doch scheint die Handlung nichts als ein einziger, konstruierter Zufall zu sein. Agnes, eine Mutter, die ihre Tochter vermisst. Ines, die kein Zuhause mehr hat. Die Frauen spielen einander etwas vor, projizieren Erwartungen und Sehnsüchte in die andere, brauchen und benutzen einander auf immer neue Weise. Es wird spioniert und verheimlicht, geschlagen und bespuckt, Vertrauen aufgebaut und dann wieder gebrochen. Jede erzählt und verschweigt in Bruchstücken die eigene Geschichte. Die Dialoge sind eigentlich monologisch und lassen uns Zeuge sein bei der Kreisbewegung der beiden Frauen um ihr Ego. Weiblichkeit wird in verschiedenen Rollen verhandelt, die Sichtweise des Films ist dabei jedoch wenig emanzipiert.

Die Frauen fahren ziellos in der Nacht durch Berlin und schalten sich durchs Radioprogramm. Kurz werden verschiedenste Songs angespielt, die wie der Versuch eines Soundtracks wirken und die Szene in verschiedenste Stimmungen tauchen. Am Ende entscheidet sich der Film für die Stille und behält diese Entscheidung bei. Er bleibt damit dem Stil der Berliner Schule treu. So ist es auch nicht überraschend, dass Töchter an Nicht-Orten spielt, die zu einem provisorischen Zuhause werden: Hotels, Mietautos, Parkplätze, meist menschenleer unter trüben Himmel.

Die Kamera bleibt nah an den Gesichtern, in die sich Müdigkeit, Sorge und Zerbrechlichkeit eingeschrieben haben. Es werden Augen gezeigt, die ewig ins Leere gerichtet sind, sich selbst im Spiegel mustern oder stumm zu Boden blicken. Durch die Close-ups ist es möglich, dem ständig wechselnden Machtverhältnis innerhalb der Beziehung genau zu folgen. Die Schauspielerinnen Corinna Kirchhoff und Kathleen Morgeneyer arbeiten sich als Agnes und Ines durch ein nuancenreiches Spektrum an Stimmungsverläufen: Schwächen zeigen, verbergen oder vortäuschen, Sympathie erzeugen, die schlagartig in Ekel umschlagen kann.

In einer Odyssee durch Berlin wird die Anonymität der Großstadt gezeigt, die müden Gesichter in vollen U-Bahnen, ein Fuchs, der um überquellende Mülltonnen schleicht, und über all dem das neblige Grau Berlins. Obdachlosigkeit wird als modernes Nomadenleben in Großstädten dargestellt. So spielt Töchter in einer Blase aus Melancholie, in der man sich wohl fühlen kann, wenn man bereit ist, sich darin einzunisten.

Julia Büttner

 

Toechter 01

Agnes, Anfang fünfzig, irrt durch Berlin. Zwischen buntem Graffiti und blättrigem Putz bewegt sie sich als eine Fremde. Der neue Film von Maria Speth, der gestern im Rahmen des Berlinale Kiezkinos im Charlottenburger filmkunst 66 gezeigt wurde, heißt Töchter und handelt von einer Mutter, die ihr Kind sucht. Beim nächtlichen Streifzug mit dem Mietwagen durch die Straßen Kreuzbergs findet sie es nicht. Stattdessen knallt sie in Ines. Und Ines knallt in sie. Wutentbrannt setzt sich Ines nach dem Unfall wie selbstverständlich auf den Beifahrersitz. Und bleibt da erst mal für eine ganze Weile.

Trotz ihrer augenscheinlichen Gegensätzlichkeit nähern sich die beiden an. Ines folgt Agnes sogar ins Hotelzimmer. Es verbindet sie eben doch sehr viel: Sie sind erschöpft und heimatlos und irgendwie auf der Suche. Die Wege, die sie ziellos durch die Stadt fahren, werden zu Kreisen. Es geht darum, Zeit zu dehnen, nicht um die Hoffnung, anzukommen. Denn eigentlich besitzen beide etwas, zu dem sie zurückkehren könnten: Agnes arbeitet als Lehrerin und hat einen Freund in Frankfurt. Ines ist Künstlerin und hat einen Platz in einem großen Atelier. Es scheint, als wollten sie das nicht.

Deshalb die Zwischen-Räume: ein steriles Hotelzimmer, in dem Agnes wohnt. Eine U-Bahn, in die sie trotz Mietauto steigt. Eine Bar, in der sie betrunken am Tresen hockt. Speth inszeniert diese Räume zusammen mit ihrem langjährigen Kameramann Reinhold Vorschneider als Räume des Übergangs. Agnes kommt nirgendwo an, steigt nie aus, macht keinen Halt. Wir sehen sie durch Scheiben und Rahmen, verschwommene Flächen und Spiegelungen, fast immer aus Distanz. Lediglich im Hotelzimmer arbeitet Vorschneider mit Nah-Einstellungen. So wird ein Ort etabliert, der Agnes und Ines doch ein wenig Ruhe bietet.

Speth beobachtete in ihrem Dokumentarfilm 9 Leben junge Obdachlose. Im Gespräch nach der Filmvorführung erzählt sie, dass sie ihre Recherchen zu diesem Thema auch in Töchter nutzen konnte. Dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass die Geschichte von den zwei ungleichen, aber ähnlichen Frauen, die nirgendwo zu Hause sind, ihr selbst nicht ausreichte. Brauchte es deshalb die symbolisch aufgeladenen und formal allzu experimentellen Szenen? Mal erblickt sich Agnes im Spiegelbild ihrer Tochter, mal blickt ihre Tochter uns als Lehmfigur tief in die Augen. Und auch die Dialoge zwischen Agnes und Ines sind anstrengend. Zwischen den Zeilen werden Verletzungen und Traumata verhandelt, im Dialog wirft Ines mit politischen Parolen um sich. Kein Wunder also, dass die Protagonistinnen im Film ständig müde sind und schlafen wollen.

Silvia Dudek

 

Toechter 02

Agnes, eine Lehrerin aus der hessischen Provinz, kommt nach Berlin, um einen Leichnam zu identifizieren. Vor einer Weile ist ihre Tochter Lydia von zu Hause weggelaufen, doch stellt sich heraus, dass die Tote nur deren Schülerausweis bei sich trug. In der Hoffnung, Lydia wiederzufinden, bleibt Agnes in Berlin. Bei einer nächtlichen Autofahrt läuft ihr die Obdachlose Ines vors Auto und weicht ihr fortan nicht mehr von der Seite. Die junge Frau, Tochter einer Kunstlehrerin, schläft in Agnes’ Hotelzimmer, trägt ihre Kleidung, dringt immer mehr in ihr Leben ein, ohne dass Agnes etwas dagegen unternimmt. Ein Verhältnis zwischen Annäherung und Abstoßung entwickelt sich.

Auf der Suche nach ihrer Tochter fährt Agnes durch die Straßen der Stadt. Zu Bahnhofsmissionen und Drogentreffs, dabei wirkt sie abwesend, fast betäubt. Wenn sie in ihrem Auto sitzt, ist die Umgebung unscharf, der Fokus liegt auf ihr selbst. Auch sonst ist der Blick aus ihren Augen stets eingeschränkt, auf Details fokussiert, die das große Ganze verschwimmen lassen. Es ist erstaunlich, wie nah die Kamera dieser Protagonistin kommt, ohne dass der Zuschauer die Distanz zu ihr überwinden kann. Die häufigen Nahaufnahmen zeigen ein Gesicht, dem jeglicher Ausdruck fehlt, eine Apathie, die bis zum Ende keinerlei Regung zu erlauben scheint. Wer trauert, ist ganz bei sich.

Die Kamera zeigt, dass es hier weniger um die Suche nach einer Tochter geht als vielmehr um eine Vergangenheitsbewältigung. Umso merkwürdiger, wie wenig Mühe Agnes sich dabei gibt. Sie weist Ines nicht ab, schließlich ist auch diese nur jemandes Tochter, versucht aber nicht im Geringsten, sich in die junge Frau einzufühlen. Die Gespräche bringen die beiden der Erlösung nicht näher. Zu sehr ist Agnes damit beschäftigt, irgendwo hinzustarren, oder sie hat „entsetzliche Zahnschmerzen“.

Maria Speths neuer Film Töchter knüpft unmittelbar an ihre Dokumentation 9 Leben von 2010 an. Darin porträtierte die Regisseurin Jugendliche, die auf der Straße leben oder gelebt haben. Sie interessierte sich dabei vor allem für das Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Eltern und hat aus diesen Menschen und Konflikten nun ihre Figuren entwickelt. Trotz der Bezüge zur Realität und der sorgfältigen Recherche erscheint Ines jedoch in vielen Szenen als wandelndes Klischee. Eine Malerin, die sich gegen Autoritäten sträubt, eine Streunerin, der Freiheit wichtiger ist als Sicherheit, die früher von der Mutter geschlagen wurde und später Selbstmord verüben wollte; eine Frau, die ständig nackt durch das Hotelzimmer läuft, sich scheinbar nicht um Konventionen schert und im Grunde doch nur in den Arm genommen werden möchte.

Nach der Premiere des Films im Forum der diesjährigen Berlinale erzählt die Regisseurin, es habe sie am meisten erstaunt, dass ein Großteil der entlaufenen Jugendlichen aus bildungsbürgerlichen Schichten stamme. Wer diese Information weniger erstaunlich findet, dürfte Schwierigkeiten haben, dem Film Töchter mehr zuzugestehen als eine formal gelungene Umsetzung.

Albert Knaub

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