Locarno 2015: Sehtagebuch (1)
Betörende Immobilienwerbung aus Kambodscha und ein deutsches Doppel: der Indie-Horrorfilm Der Nachtmahr und das trockene Wir-haben-die-Nazis-überwunden-Biopic Der Staat gegen Fritz Bauer.

Wem die Filme von Schweighöfer und Schweiger nicht ausreichend Reklame für Tourismus und Schöner Wohnen sind, könnte irritiert – und hoffentlich beglückt – feststellen, dass ein neuer, kleiner, fantastischer Film aus Kambodscha noch viel unverschämter für urbane Immobilien und idyllische Landstriche wirbt, als es all die schön lackierten Loft-Neid-Bilder der Schweigbrüder zu tun vermögen. Dream Land hat sonst freilich nicht viel mit den Lust-und-Frust-Komödien der beiden Publikumsflüsterer zu tun, aber immerhin gibt es auch in Steve Chens Film einen Typen, auf den die Frau steht, obwohl er ihr nicht gut tut. Dream Land will gerne ins leicht Sphärische gleiten, doch die beinahe dokumentarische Qualität, die die ständigen Wohnungs- und Hausbesichtigungen einbringen, sind viel faszinierender als die auch noch erzählte Liebesgeschichte der Immobilienmaklerin mit einem allzu selbstverliebten Fotografen. An einer Stelle wirddas Bild sogar eins mit einer Computeranimation, die eine neu zu bauende Stadt entwirft, da nimmt der Film plötzlich eine wunderbar groteske und doch umso realere Dimension ein, die er trotz all seiner Bemühungen nie mit Milieu oder Gesellschaft aufgeladen (oder durchzogen) bekommt, gerade weil er so auf das Ausstellen und Zeigen aus ist.

Der Nachtmahr – der einzige Film eines deutschen Regisseurs in Locarno, der es zumindest in einen Nebenwettbewerb geschafft hat – will ebenfalls zeigen und ausstellen. Für einen Horrorfilm ist das zunächst allerdings ein eher merkwürdiger Impuls. Während das Genre vom Angedeuteten zehrt, das Unbehagen erzeugen und Angst einflößen kann, setzt Akiz, so der Künstlername von Achim Bornhak, ins Zentrum seines Teenie-Grusel-Films ein kleines an E.T. erinnerndes „Viech“, das wunderbar eklig und liebenswürdig zugleich ist. Der Regisseur, der vermutlich nur ungern will, dass dieser Film in eine Linie mit seinem Uschi-Obermaier-Biopic Das wilde Leben gesetzt wird, hat hier wahrlich ein Experiment umgesetzt und sich dafür in ein Terrain vorgewagt, das nur selten in Deutschland bespielt wird. Der Horrorfilm mutiert immer mehr zum Psychothriller, durchsetzt mit bravouröser und nervenzehrender Teenage Angst. Der Nachtmahr entwickelt einen überraschenden Drive und filmischen Elan, den so schnell auch die schwächeren Passagen und die strukturellen Schwierigkeiten nicht ausbremsen. Ob Akiz tatsächlich weiß, was er erzählen will, wird immer schwerer festzustellen, weil der Film so viele Fronten auf einmal bespielt und sie gleichzeitig kaum verdichtet. Je länger ich aber darüber nachdenke, desto besser gefällt mir das. Der Film ist übrigens ohne Fernsehsender und Filmförderung entstanden.

Seit wann gehen eigentlich TV-Redakteurinnen und Filmförderer bei Premieren mit auf die Bühne? Mir scheint, das hat in den letzten Jahren immer mehr Konjunktur. Und ist das nur bei deutschen Filmen so? Ist das gar Ausdruck der wahren Autorenschaft bei deutschen Kinofilmen? Bei Lars Kraumes Der Staat gegen Fritz Bauer, der hier im leider seit ein paar Jahren eher lieblos kuratierten Programm für die Piazza Grande lief, war das wieder einmal so. Regisseur, beide Hauptdarsteller, zwei Produzenten, eine Redakteurin und zwei Förderinnen. Ich bin jedes Mal wieder baff. Und mein Unwohlsein mit deutschen Geschichtsfilmen, die von einem der guten Deutschen erzählt, die es bei uns ja auch gab, nimmt nicht ab. Dennoch ist das Biopic von Lars Kraume um Welten besser inszeniert als der letztjährige Im Labyrinth des Schweigens von Giulio Ricciarelli. Die Filme stehen in einem engen erzählerischen Zusammenhang: Während Im Labyrinth des Schweigens die Vorgeschichte zu den Auschwitz-Prozessen zum Thema hatte und die Ermittlungen in die Hand der fiktiven Figur eines jungen Staatsanwalts legte (Alexander Fehling), der unter Fritz Bauer (Gert Voss) gewähren darf, setzt Der Staat gegen Fritz Bauer noch etwas früher an und nimmt die historische Figur von Fritz Bauer (Burghart Klaußner) selbst in den Blick, den damaligen Generalstaatsanwalt, der sich um die Festsetzung von Adolf Eichmann in Argentinien bemühte.

Kraume kennt mehr Zwischentöne und mag ambivalente Dynamiken zwischen Figuren, das hat er Ricciarelli voraus. Nur scheint er gleichzeitig davor zurückzuschrecken, die Geschichte allzu lebendig werden zu lassen. Die Inszenierung verlässt selten den Modus eines braven Schulkinos, das zur Absicherung der guten Absichten noch immer einen Schleier des Theatralen über alles legt, damit nie ein Zweifel daran entstehen könnte, dass das nur eine Nachinszenierung ist. Glaubwürdigkeit steht also nicht an erster Stelle, aber auch nicht Verfremdung und erst recht keine bewusst filmhistorisch perspektivierte Inszenierung wie in Phoenix von Christian Petzold. Stattdessen wird erklärt, wie es gewesen sein könnte, verständlich, leidenschaftslos, halbherzig. Ärgerlich und auch beängstigend ist, wie wenig der Film Bilder findet für die Durchsetzung des bundesrepublikanischen Staates mit Nazis – obwohl das im Titel gleich an erster Stelle steht. Stattdessen inszeniert Kraume Bauer als Einzelkämpfer, der einen Verbündeten findet in einem jungen Staatsanwalt, der, wie er selbst auch, auf Männer steht. Und so verbringt der Film so einige Zeit damit, das Geschichtsdrama ins Persönliche zu verlagern, allerdings ausschließlich auf der Seite der Helden. Die Schwulen werden siegen, das scheint heute normal, und die Nazis, ach, die sind wir dann in einem Zuge mit dem alten Zeitgeist wohl auch los geworden. Weil sich Der Staat gegen Fritz Bauer nie für die Aktualität faschistischer Strukturen und Denkmuster interessiert, reiht er eine vertane Chance an die nächste.
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