(Ganz) Junge Kritik: XXY
Und wenn es keine Wahl zu treffen gibt?
Den Menschen entflohen, die meinten, über die Situation ihrer Tochter urteilen zu können, sehen sich Alex’ Eltern auch in der Einsamkeit Uruguays schnell unerwartet einschneidenden Problemen gegenüber. Die Dinge sollen gleich bleiben. Das ist alles, was Alex möchte für den Moment, für immer. Keine Operationen mehr, keine Umzüge, keine neuen Schulen. Inés Efron stellt Alex auf eindringliche, anrührende Weise dar, ohne der Protagonistin etwas von ihrer Authentizität zu nehmen und ohne zu viel zu geben, als für das Thema des Films XXY notwendig ist, um verständlich zu machen, wie anders und gleichzeitig doch ähnlich Alex’ Situation ist verglichen mit der anderer Jugendlicher. Alex ist fünfzehn – und aufgrund eines anormalen Chromosomensatzes ist sie beides: Junge und Mädchen.
Lucía Puenzos erster Langfilm ist ein Weg zu sich selbst, der erschwert wird durch die Steine, die Fremde einem vor die Füße werfen. In stillen und geeignet offenen Bildern werden Beobachtungen angestellt, doch niemals wird geurteilt oder vorschnell entschieden. Ohnmächtig und unberechtigt werden Alex’ Eltern im Film porträtiert; Alex muss den langen Weg zwar nicht ohne die Unterstützung gehen, doch sie allein ist berechtigt, zu entscheiden, wohin es geht. Die Intensität, mit der die Charaktere des Films einen ergreifen und betroffen machen, ist sowohl den herausragenden Darstellern als auch den kommentarlosen, nachdrücklichen Aufnahmen zu verdanken.
„Jeder wird es wissen“, sagt Alex’ Vater einmal zu seiner Tochter. Jeder wird wissen, dass du nicht wie sie bist. „Lass es sie wissen“, ist alles, was Alex erwidert.
Die Meinung anderer taucht in XXY zwar auf, doch sie ist es nicht, die für wichtig gehalten wird. Vielmehr die Freiheit der eigenen Entscheidung. Und auch die Freiheit, keine Entscheidung zu treffen.
Kritik von Christina Gerhard (Gymnasium Neubiberg, München)
Zwischen den Stühlen
Sie oder Er? Das ist hier die Frage. Die Hauptfigur in Lucía Puenzos erstem Spielfilm XXY ist Mädchen und Junge zugleich. Mitreißend und überzeugend spielt Inés Efron die fünfzehnjährige Alex, die vor einer Entscheidung steht, die den meisten Menschen schon vor der Geburt abgenommen wird – es geht um ihr Geschlecht.
Das Thema der Zweigeschlechtlichkeit wird dem Zuschauer auf atemberaubend emotionale Art und Weise nahe gebracht. Inés Efron meistert die Herausforderung dieser extrem anspruchsvollen Rolle und fängt den Zuschauer mit ihrer Darstellung ein. So kommt es zu Tränen bei den Zuschauern, ausgelöst durch den extrem verletzenden Umgang Anderer mit Alex’ Besonderheit, aber auch durch ihre eigene Unsicherheit gegenüber sich selbst und ihrer Zuneigung zum sechzehnjährigen Álvaro.
Der Liebesbeziehung zwischen den beiden Jugendlichen entspricht im gesamten Film das Blau-Grau der uruguayischen Dünenlandschaft. Nie ist das Wetter richtig gut, nie kommt ein Gefühl von Wärme auf, die Farben bleiben blass. Wirkliche Leidenschaft kann Alex nicht aufbauen, ist sie sich doch ihrer selbst so gar nicht sicher. Sie fühlt sich zu Álvaro hingezogen und er zu ihr, doch hat die Beziehung innerhalb der Gesellschaft keine Chance zu irgendeiner Art von Romanze aufzublühen. Massives Hindernis ist auch Álvaros Vater, der seinen Sohn auf gefühllose Weise von der Beziehung abbringen will und gemeinsam mit seiner Frau auf die Umoperierung Alex’ zum Mädchen drängt.
XXY ist ein Film, der ohne Tabus über das Erwachsenwerden und Identität finden, über Sexualität und den fragwürdigen Begriff „Normalität“ redet.
Kritik von Caroline Reiter (Schulzentrum Walle, Bremen)
Qui suis-je?
Wer bin ich? Diese Frage stellt sich wohl jeder Mensch einmal. Was ist aber, wenn es nicht einmal auf die grundsätzliche Frage, ob Mann oder Frau, eine eindeutige Antwort gibt?
Alex, 15-jährig, ist auf der Suche nach Eindeutigkeit. Auf dem Weg herauszufinden, wer sie ist, beginnt sie langsam, ihren eigenen Körper zu akzeptieren und zu sich selbst zu stehen.
Jede Geste und jeder Gesichtsausdruck Inés Efrons beruehren den Zuschauer. Sie verkörpert die Figur Alex mit viel Sensibilität, wodurch diese regelrecht zum Leben erweckt wird.
Das Thema des Andersseins und die Frage „Was ist eigentlich normal?“ werden immer wieder im Film aufgegriffen. So ist in einem südamerikanischen Land, wie Uruguay sehr ungewöhnlich, dass der Vater, als Familienoberhaupt, seine Tochter dabei unterstützt, selbst die Entscheidung über ihr Geschlecht zu treffen.
Mit ihrem Erstlingswerk XXY ist Lucía Puenzo auf Anhieb eine perfekte Komposition aus grandioser schauspielerischer Leistung, ausdrucksstarken Bildern und gefühlsbetonter Musik gelungen.
Kritik von Judith Lübke, Verena Kasztantowicz (Primo-Levi-Oberschule, Berlin)
Blau oder rosa oder was?
Die Sexualität, welche mit steigendem Alter eine immer wichtigere Rolle spielt, bringt die Jungregisseurin Lucia Puenzo mit ihrem Film XXY sehr gut zur Geltung. Es scheint so, als ob sie verschiedene Erfahrungen von Personen, die sich in einer ähnlichen Situation befanden, gesammelt hat und zusammengefügt in einem Film wiedergegeben hat. In ihrem Szenario wird ein 15-jähriges Mädchen beschrieben, welches starke Merkmale zum männlichen Geschlecht aufweist, mit dem steigenden Interesse ihres Umfeldes Probleme bekommt und somit in Gefahr gerät.
Es ist ein Film, der ein selten angesprochenes oder gezeigtes Thema behandelt. Durch Szenen, in denen Personen das Mädchen verfolgen, auf den Boden schmeißen und schlagen, um zu sehen, was an diesem Mädchen männlich ist, wird der Zuschauer zum Denken angeregt, denn dies ist ein Beispiel für das Verhalten des sozialen Umfeldes zu diesem Thema. Der Film bringt die Thematik sehr gut herüber, dadurch dass er durch sehr viele emotionale Szenen die Gefühle des/r Hauptdarsteller(in) unterstreicht.
Filmisch überwiegt das männliche Element, auch dargestellt durch blau unterlegte Sequenzen. Dem Zuschauer stellt sich die Frage, ob bei der Entscheidung des Protagonisten nicht auch Zwischentöne möglich sind.
Kritik von Mario Karbowiak (Gesamtschule Welper, Hattingen)
XXY; Argentinien, Spanien, Frankreich 2007; 90 Minuten; Regie: Lucía Puenzo; Drehbuch: Lucía Puenzo; Produzent: Luis Puenzo; Mit Ricardo Darín, Valeria Bertuccelli, Germán Palacios, Carolina Peleritti, Martín Piroyansky, Inés Efron
Diese Kritiken sind entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2007.
Zur Übersicht der Semaine Internationale de la Critique de Cannes 2007
Kommentare zu „(Ganz) Junge Kritik: XXY“
Andrea Engeken
Aus aktuellem Anlass - Richtigstellung zum Film XXY
Lieber Besucher unserer Homepage,
vielleicht haben Sie den Weg auf diese Seite gefunden, als sie nach Informationen zum Film „XXY“ der argentinischen Regisseurin Lucía Puenzo suchten, der am 26.6.2008 in vielen Deutschen Kinos startete.
Wir haben festgestellt, dass beim Publikum durch den Film, seinen unglücklich gewählten Titel und seine Darstellung in der Presse ein völlig falsches Bild entsteht.
Etliche Redakteure schreiben sinngemäß, dass Alex, die Hauptperson des Films, zwischengeschlechtlich geboren wurde, also männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale hat, weil sie einen abweichenden Chromosomensatz von XXY habe, aber genau dies ist nicht der Fall!
Alex ist genetisch eine Frau mit normalem Chromosomensatz 46,XX. Sie ist von dem Andro-Genitalen-Syndrom, AGS betroffen. Die Ursache dafür ist eine angeborene Funktionsstörung der Nebennierenrinde und keine Chromosomen-Anomalie.
Frau Puenzo hat nach eigenen Angaben ihren Filmtitel „XXY“ nur als Metapher für das Leben zwischen den Geschlechtern gewählt, ohne damit den Chromosomensatz XXY zu meinen.
Tatsächlich gibt es die Chromosomenverteilung 47,XXY, das so genannte Klinefelter-Syndrom. Aber dieses Syndrom führt nie zu uneindeutig ausgeprägten Geschlechtsorganen. Die betroffenen Menschen werden zweifelsfrei als Jungen geboren. Bei ihnen wurde oder wird keine Angleichung der Genitalien in welcher Form auch immer durchgeführt!
Etwa jeder 600ste bis 1000ste Mann ist Träger dieser Chromosomenanomalie. In Deutschland leben etwa 80.000 KS-Träger, aber nur die wenigsten wissen davon. Nur etwa 6000 erhielten irgendwann im Laufe ihres Lebens die Diagnose Klinefelter-Syndrom. Das bedeutet in über 90% der Fälle führen die Betroffenen ein oft ganz unauffälliges Leben als Mann.
Nach aktueller Einschätzung gilt das Klinefelter-Syndrom an sich weder als Behinderung, noch als Krankheit. Trotzdem ist es eine medizinische Indikation, die einen legalen Schwangerschaftsabbruch erlaubt, da es sich um eine Trisomie handelt.
Eigentlich ist eine Trisomie eine gravierende Chromosomenabweichung. Dem muss man aber die Realität gegenüberstellen: Das Klinefelter-Syndrom steht einem selbst bestimmten Leben als Mann in den meisten Fällen in keiner Weise entgegen!
Die sachlich falschen Besprechungen des Films „XXY“ könnten dazu beitragen, dass sich werdende Eltern eines Klinefelter-Kindes grundlos zu diesem fatalen Schritt entschließen!
Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass es ganz ohne Auswirkung auf das Leben der Betroffenen wäre: Das zusätzliche X- Chromosom beeinflusst die Entwicklung der männlichen Keimdrüsen negativ, die Hoden bleiben klein und produzieren das männlichen Sexualhormon Testosteron nur unzureichend.
Dieser Testosteronmangel ist die eigentliche Ursache für eine Reihe von Beschwerden und Spätfolgen, die auftreten können, aber keineswegs müssen:
Die Pubertät vollzieht sich nur verzögert oder unvollständig und damit die Vermännlichung. Knochen und Muskelaufbau und damit die körperliche Leistungsfähigkeit sind vermindert, im Lauf des Lebens entwickelt sich daraus häufig eine Osteoporose.
Es kann sich eine Gynäkomastie, eine der weiblichen ähnliche Brustform entwickeln. Diese hat aber nichts mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen im Sinne eines „Hermaphroditen“ zu tun.
Libido und Potenz können vermindert sein
Fast alle Klinefelter-Betroffenen haben eine stark eingeschränkte oder gar keine Spermienproduktion, bleiben daher auf natürlichem Weg kinderlos.
Bis auf diesen letzten Punkt lassen sich die anderen Probleme durch die medikamentöse Gabe von Testosteron ganz beheben, oder deutlich vermindern. Auch die Auswirkungen auf die Psyche, wie häufige Müdigkeit, Antriebsarmut und Kontaktschwäche verbessern sich entscheidend.
Für ein optimales Ergebnis ist es wichtig, dass die Betroffenen frühzeitig erkannt und dann ausreichend mit Testosteron behandelt werden können.
Dafür setzt sich bundesweit die Deutsche Klinefelter Syndrom Vereinigung e.V. ein.
Wenn Sie mehr zu diesem Thema wissen möchten, lesen Sie weiter auf unserer umfangreichen Homepage oder wenden Sie sich an unser kostenloses Info-Telefon 0700-999 47 999.