Ein Lehrgang in Empathie – Rotterdam Film Festival 2018
In Rotterdam ist der Blick entschieden in die Zukunft gerichtet: Tickets gibt es keine mehr, dafür aber virtuelle Realitäten, die unser Bewusstsein für die Wirklichkeit schärfen. Im Kino stellt sich dann die Frage, wie wichtig überhaupt die emotionale Anteilnahme bei einem Film ist. Denn einer treibt seinen Figuren das Leben aus und ein anderer eher uns Zuschauern.
Mein Besuch in Rotterdam beginnt mit einem nicht eingelösten Versprechen. Hampshire Savoy heißt mein Hotel; ein Name, den man sich erstmal auf der Zunge zergehen lassen muss, der nach Himmelbetten und einer opulenten, mit Kronleuchtern verzierten Lobby klingt – am Ende aber doch nur einem etwas in die Jahre gekommenen Businesshotel gehört. Naja, man wird wohl noch träumen dürfen.
Kino ohne Tickets

Da passt es ganz gut, dass mein Einstieg ins hiesige Festival mich zunächst in eine virtuelle Realität bringt. Das Rahmenprogramm ist in Rotterdam üppig. Überall im Zentrum gibt es zahlreiche Installationen und kleine Ausstellungen, die das ohnehin schon sehr umfangreiche Filmangebot noch weiter vergrößern. Und in die Zukunft ist der Blick des Festivals ohnehin gerichtet – und das nicht nur wegen seiner Science-Fiction-artigen Posterserie, in der die Figuren aus vergangenen Festivalfilmen als fremde Spezies dargestellt werden. Allein das moderne Ticketsystem ist vorbildlich. Während die Berlinale sich schon damit brüstet, Papier-Kaffeebecher eliminiert zu haben, gibt es hier (zumindest für die Presse) nicht einmal mehr Tickets. Diese bucht man einfach online auf seinen Account und zeigt am Eingang lediglich die Akkreditierung vor.
Ich lande schließlich in einer Schau zum Panafrikanismus, in der es auch eine Auswahl an Virtual-Reality-Arbeiten gibt. Eine der größten Qualitäten dieses Mediums ist es sicher, den Illusionscharakter des Kinos noch zu intensivieren. Das wenige aber, was ich aber bisher gesehen habe, versucht, den Teilnehmer zugleich, in der Wirklichkeit zu erden. Oder genauer gesagt: Man bringt den Zuschauer in eine imaginäre Welt, um sein Bewusstsein für die Realität zu schärfen.
Die sinnliche Qualität des Mediums ausreizen

Dieser Zuschauer wird in Let This Be a Warning vom kenianischen Nest Collective vor allem als privilegierter gedacht, genauer gesagt als weißer. Ich lande in der statischen Low-Budget-Dystopie eines wüstenähnlichen, nur von Schwarzen bewohnten Planeten. Man selbst ist ein Reisender, der von den dortigen Behörden in die Mangel genommen wird. Die Absicht, die hinter dieser Versuchsanordnung steht, wird erst gar nicht verschleiert. Man soll selbst einmal das Gefühl bekommen, Flüchtling zu sein; ein Mensch zweiter Klasse, der angestarrt und belehrt wird, selbst aber nicht handeln kann. Dass vor allem die Message hängenbleibt, hat auch damit zu tun, dass sich das Nest Collective – sicher auch aus Kostengründen – wenig daran interessiert zeigt, die sinnliche Qualität des Mediums auszureizen.
Das ist in Janicza Bravos Hard World for Small Things schon ein bisschen anders. Auch hier soll uns eine Lebenserfahrung nähergebracht werden, die nicht die unsere ist. Doch auch wenn es in der Arbeit eigentlich um rassistische Polizeigewalt geht, fühlt man sich als Zuschauer dabei nicht derart an die kurze Leine genommen. Während man mit einer Gruppe schwarzer Freunde in einem Auto durch L.A. cruist, kann man auf seinem Drehstuhl rotieren, bis einem schwindlig wird, die urbane Landschaft erforschen oder einfach den Gesprächen der Mitreisenden lauschen. Vor allem gibt es durch die sich simultan abspielenden Ereignisse die Freiheit, die Aufmerksamkeit schweifen zu lassen. Und obwohl auch hier das Konzept einleuchtet, per Simulation einen Lehrgang in Empathie zu bekommen, scheint es doch irgendwie paradox, dass gerade eine der Hauptstärken von Virtual Reality, nämlich der persönliche Handlungsspielraum, sofort wieder mit einem eindeutigen Lernziel eingeschränkt wird.
Papas Pädophilenjagd

Später sehe ich dann meinen ersten Spielfilm: Constantin Popescus Pororoca, der zwar nicht didaktisch ist, dafür aber ein Empathie-Problem hat. Der Film erzählt gemächlich von einem bürgerlichen Familienvater, dessen Tochter eines Tages bei einem Besuch im Park verschwindet. Die Art und Weise, wie Popescu immer wieder das Alltägliche zerdehnt oder neue Indizien ins Spiel bringt, um sie kurz darauf wieder ins Leere laufen zu lassen, legt schnell nahe, dass es hier nicht darum gehen kann, den mysteriösen Fall jemals zu lösen. Was stattdessen ins Zentrum rückt, ist der zunehmende psychische Verfallsprozess des Vaters Tudor – gespielt von Bogdan Dumitrache, bei dem es mir so vorkommt, als wäre er in fast jedem Film der Neuen Rumänischen Welle zu sehen. Popescu schafft eine Situation absoluter Hilflosigkeit, die auch das Publikum spüren soll. Irgendwann bedaure ich, dass Pororoca kein Thriller mehr wird – auch wenn der Film tatsächlich wieder mitreißend ist, als ein vermeintlicher Kinderschänder in Tudors Visier gerät. Die Überführung in einen Papa-geht-auf-Pädophilenjagd-Selbstjustiz-Reißer steht trotzdem nicht zur Debatte.
Das Problem von Pororoca ist, dass sich die Frustration von Schauspieler und Zuschauern spiegeln sollen, sich die Erzählweise des Films dafür aber nicht eignet. Weil wir nur minutiös einem Abstieg beiwohnen, ohne emotional involviert zu werden, führen die enttäuschten Erwartungen des Publikums nicht zu Wut, sondern nur zu steigendem Desinteresse. Wenn man nicht davon ausgeht, dass Popescu uns Zuschauern lediglich zeigen will, wie sehr wir auf klassische Erzählmuster konditioniert sind, ist es bemerkenswert, wie wenig sein Film auf einer sehr grundlegenden Ebene funktioniert.
Unvorteilhaft gealterte Hippie-Utopie
In Ted Fendts neuem Film Classical Period – der nicht in Rotterdam läuft, sondern erst bei der kommenden Berlinale – hält ein Literatur-Nerd einmal einen Monolog darüber, wie überschätzt Frank Lloyd Wright eigentlich ist. Er gesteht ihm zwar zu, dass seine Häuser toll aussehen, aber weil sie den Anforderungen der Natur nicht entsprechen, handelt es sich bei ihnen eben nur um Kunst und nicht um Architektur. Ich muss an diese Szenen denken, als ich in einer Pause die von Piet Blom entworfenen Kubushäuser besuche. Von außen ist der Gebäudekomplex mit seinen schräg stehenden Würfeln als Wohneinheiten immer noch beeindruckend verquer – auch wenn man sich manchmal wie in einer nicht unbedingt vorteilhaft gealterten Hippie-Utopie fühlt. Betritt man jedoch die Appartements, läuft dabei über ihren ramschig aussehenden Linoleum-Boden, muss sich wegen der klaustrophobisch anmutenden, schrägen Wände ständig bücken und hat zudem noch einen komischen Pipi-Geruch in der Nase, ist die Frage, ob man hier gerne wohnen würde, schnell beantwortet.
Nichts mehr für sich selbst empfinden

Am nächsten Morgen sehe ich dann einen Film, der zwar auch gegen die Konventionen eines illusionsfördernden Erzählkinos arbeitet, sich damit aber selbst keine Steine in den Weg legt. In ihrer zweiten Zusammenarbeit setzen Schriftsteller Dennis Cooper und Regisseur Zac Farley überwiegend auf junge Laiendarsteller, die aber schon deshalb nicht störend laienhaft wirken, weil sie erst gar nicht richtig spielen. Permanent Green Light weiß seine Beschränkungen für sich zu nutzen. Wie betäubt wirken die blassen, dünnen Jungs in der menschenfeindlichen Vorstadt, von der der Film immer nur Fragmente zeigt. Kein Wunder, dass man sich hier nur entweder in den besten Freund verlieben oder den eigenen Suizid herbeifantasieren kann. Wie auch in Coopers Büchern geht es viel um das Makabre und Perverse, um Einsamkeit und Todessehnsucht. Dass der Film Bildern und Darstellern das Leben austreibt, hat auch damit zu tun, dass die Figuren selbst mit ihrer Zugehörigkeit zu dieser Plastik-Welt ringen. Weil der Held einfach nur verschwinden möchte, versucht er, sich selbst nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als Sache zu sehen. Permanent Green Light braucht die Anteilnahme des Zuschauers nicht, weil nicht einmal sein Protagonist etwas für sich selbst empfindet.
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