Ein langer Gang im Festival-Palais: Die Short Film Corner in Cannes 2015

Die „Short Film Corner“ zeigt Kurzfilme aus fast allen Genres. Ein Austausch zwischen Nachwuchs-Regisseuren und professionellen Filmschaffenden findet aber nur bedingt statt, stellen Christine Duttlinger und Gwendolen van der Linde fest. Die beiden Studentinnen der Universität Hildesheim waren mit jeweils einem Film vertreten.

Destroy Roy 01

Blut spritzt, und der Kopf von Kameramann Roy knallt auf den Boden. Sein Rumpf landet daneben. Kameraassistentin Trish lässt die Mordwaffe Filmklappe liegen und zieht die alte Arri-Kamera Trudie an sich. Sie lächelt. Und ich auch, denn diesen Film habe ich produziert. Zusammen mit meiner Freundin Hanna Seidel, die Regie führte. Und jetzt ist Destroy Roy! einer von 2000 internationalen Kurzfilmen, die man dieses Jahr im „Short Film Corner“ in Cannes sehen konnte.

Die „Short Film Corner“ oder „Court Métrage“ in Cannes ist ein Teil des internationalen Filmfestivals. Wer seinen Film hier online einreicht, der kann es auch gleichzeitig im Kurzfilmwettbewerb versuchen. In die offizielle Auswahl habe ich es nicht geschafft, aber ich bin Teilnehmerin an der „Short Film Corner“. Und stolz darauf. Aufgeregt flaniere ich über das Festival. Immer sichtbar umgehängt: mein Festivalpass. Ist man nicht zufällig die Begleitung von Gérard Depardieu, muss man, um das Gelände zu betreten, seine Einladung vorzeigen.

Zuschauen und klatschen

Bitch Popcorn and Blood 01

Breakfasts mit Produzenten, Pitchings und gemeinsame Screenings: Die „Short Film Corner“ bietet eine Plattform zum Austausch und gleichzeitig auch die Chance, mit prominenten Filmemachern ins Gespräch zu kommen. Allerdings sind die Plätze hier begrenzt: Als ich online den „Teilnehmen-Button“ drücke, ist es schon zu spät. Lediglich zwei Eintrittskarten für Premieren im großen Saal ergattere ich. Meine Aufgabe hier: zuschauen und klatschen. Ein Nachgespräch oder ein anderes Diskursformat nach den großen Filmpremieren gibt es für gewöhnliche Teilnehmer leider nicht. Das „Short Film Corner“-Programm umfasst nominell sämtliche Genres, klammert dabei aber Pornografie und Gore aus. Zudem wird bei der Auswahl sehr darauf geachtet, dass die technische Qualität des Materials einen gewissen Standard erfüllt: Hohe Bildauflösung und klarer Ton sind ein Muss.

Blutig-Buntes und Selbstreflexives

Destroy Roy 02

Als konkretes Setting ist die „Short Film Corner“ natürlich keine Ecke, sondern ein langer Gang im Festival-Palais. Es gibt mehrere Sichtungsräume, in denen man in Gruppen oder alleine die Filme am Computer sehen kann. Es gab dieses Jahr 37 deutsche Filme in der „Short Film Corner“, unter ihnen unser Destroy Roy! und Die, die Welt bedeuten von Gwendolen van der Linde.

Van der Lindes Film ist eine schwarze Komödie, wie ich sie liebe: Ein Statist ist gefangen in einem surrealen Setting zwischen horrorartiger Tagträumerei und der sehr realen Skrupellosigkeit von Filmemachern. Ich blicke von meinem Bildschirm auf. Zu gerne würde ich mit jemand zusammen die Frage erörtern, warum solche komödiantischen Genrefilme schwer finanzierbar sind. Die Festivalteilnehmer an den Schreibtischen um mich herum sind allerdings in andere Kurzfilme vertieft. Van der Linde hat ihren Film an der Universität Hildesheim im Studiengang „Szenische Künste“ im uni-eigenen Filmstudio auf 16mm gedreht. Genauso wie Hanna und ich. Und beide Filme beschäftigen sich mit dem Thema „Film im Film“. Ich grinse. Sind diese beiden selbstreflexiven Werke ausgewählt worden, weil das Festival dazu auffordern will, die eigene Arbeit mehr zu hinterfragen?

Diese Thematik ist natürlich nicht die einzige, die im Programm der „Short Film Corner“ auftaucht. Es gibt allerlei andere verrückte Geschichten zu entdecken, wie in dem französischen Kurzfilm Bitch, Popcorn & Blood von Fabio Soares. Hier geht es um eine schüchterne Popcorn-Verkäuferin, die in ihrer bonbonfarbenen Welt plötzlich zu einem bad-ass gun girl mutiert. Neben den zahlreichen blutig-bunten fiktionalen Filmen stoße ich auch auf spannende Dokumentationen wie Trip or Money von Miao-Hua Tai aus Taiwan. Die Regisseurin beschreibt die lange Suche eines Reisenden nach Glück und Absicherung. Aber auch Animationsfilme, Experimentalfilme und Dramen sind in großer Zahl vertreten.

Eigenwerbung ist gefordert

Bitch Popcorn and Blood 02

Täglich bekomme ich Mails, wie häufig mein Film von Produzenten oder anderen Kurzfilmmachern angeschaut wurde. Als angehende Produzentin hätte ich gerne auch noch ein Feedback, aber in den automatischen Benachrichtigungen ist kein Platz dafür. Meine E-Mail-Adresse findet man aber auch im Katalog, der in der „Short Film Corner“ ausliegt und in dem alle Filme des jeweiligen Jahres verzeichnet sind. Doch die vier Menschen, die den Film gesehen haben, schreiben mir nicht.

Im größeren Festivalkontext wird die „Short Film Corner“ wenig beworben. Erwartet wird, dass wir selbst auf dem Festival unterwegs sind, um unsere Werke anzupreisen. Manche hoffen auch darauf, dass das Plakatdesign oder die Filmbeschreibung im Katalog die Festival-Besucher dazu veranlasst, ihre Filme anzuschauen. Ich versuche über Bars, Fahrstühle und Foyers den Kontakt mit Produzenten und anderen Regisseuren herzustellen. Wer weiß: Vielleicht findet die eine oder andere blutige Szene ja auf diesem Umweg noch zu ihren Zuschauern. Einblicke in die Rituale und Abläufe eines großen Filmfestivals ergeben sich durch die Teilnahme an der „Short Film Corner“ allemal.

Christine Duttlinger

 

Agnes Varda Cannes 2015

Meine Rezeption von Cannes beginnt schon vor dem eigentlichen Besuch mit diversen Kommentaren, die etwa ab Festivalbeginn plötzlich meine Facebookpinnwand überfluten. Das FrauenFilmFestival DortmundKöln freut sich, dass die Ehren-Palme zum ersten Mal an eine Frau geht: an Agnès Varda für ihr Lebenswerk. Wütende Posts, dass eine Frau nicht in den Kinosaal gelassen wurde, weil sie keine High Heels trug, stehen dem gegenüber. Schon mit dieser Nachricht wird klar, wie viel von Cannes neben dem Glamour des Films auch Glamour der Mode ist. Timo Baer, mein Hauptdarsteller, schreibt mir, dass wir ohnehin in keinen Film nach 16 Uhr reinkommen werden, weil er keinen Tuxedo besitzt. Abendgarderobe ist Pflicht. Ein befreundeter Filmkritiker aus Napoli, den ich vor zwei Jahren bei der Berlinale kennengelernt habe, postet alle zwei Minuten bitterböse Kommentare: wo er sich gerade befindet und anscheinend nicht reingelassen wird: „Almeno a Berlino, se entra.“ („In Berlin kommt man wenigstens ins Kino rein.“) Diese Posts sagen schon ziemlich viel über die Etikette in Cannes aus.

Unwahrscheinlich unüberschaubar

Roter Teppich Lumiere

Als Eingeladene der „Short Film Corner“ habe ich mich natürlich für alle speziellen Angebote, über die wir regelmäßig in einer Flut von E-Mails informiert wurden, beworben: für das Producers Breakfast, wo junge Filmemacherinnen und Filmemacher anscheinend Produzenten kennenlernen können, für die Pitching Training Session usw. Ich habe nirgendwo einen Platz bekommen, obwohl ich mich sehr frühzeitig beworben habe. Das Einzige, was dann noch als spezieller Event bleibt, sind die Happy Hours ab 17 Uhr, wo der sonst leergefegte Flur im Keller des Gebäudes plötzlich übersprudelt von den Tausenden Akkreditierten, die Sekt nippen und sich in Grüppchen unterhalten. Sonst ist die „Short Film Corner“ tatsächlich wie ausgestorben. Eine ältere Frau reicht uns Flyer von ihrem Film und dem Film eines Freundes – sie steht absichtlich da herum, wo man an Computern die Filme in der Onlinevideothek gucken kann. So muss man es wohl machen, denn anders lässt sich unter den unzähligen Filmen des Programms keine Aufmerksamkeit für den eigenen generieren.

Generell ist man in Cannes bei der Ankunft überfordert, und diese Überforderung ist eine andere als beispielsweise in Berlin, wo man eine klare Aufgabe hat: von einem Kino zum nächsten zu kommen, da diese weit auseinanderliegen können. Bei Cannes ist alles mehr oder weniger in einem riesigen, unwahrscheinlich unüberschaubaren Gebäude untergebracht (mal abgesehen vom Open-Air-Strandkino etwas weiter die Promenade am Meer entlang). Innerhalb von drei Tagen ist es mir bei Weitem nicht gelungen, das System dieses Gebäudes zu durchschauen: überall Treppen, Flure, Räume, Pavillons, fast alles erstaunlich ausgestorben, und man kann hinter einer Ecke jederzeit auch auf einen Büroraum des Organisationsteams stoßen.

Wir erhielten dann nach Abholung unserer Akkreditierung blaue Taschen – nicht nur so Stoffbeutel, sondern richtige elegante Taschen –, darin alle Kataloge des Festivals und diverse Flyer, nicht aber der „Short-Film-Corner“-Katalog. Auch die Grundausstattung muss offenbar den Ansprüchen des modischen Glamour genügen. Vor dem Palast, vor dem Kino und den Sälen streunen Massen von aufgetakelten Männern und Frauen herum, alle in Abendgarderobe, geschmückt und frisiert, manche werden dabei aus unerfindlichen Gründen fotografiert, und alle betteln um eine der „Invitations“: Unbedingt einmal über den roten Teppich laufen dürfen. Vor uns sind eine Reihe von Strandstühlen aufgestellt, auf denen Menschen jeden Alters und unterschiedlicher Herkunft auf die Ankunft von Stars warten.

Aufnahmerituale

Macbeth 01

Wir haben Glück und bekommen doch zwei Karten: für Macbeth und für Valley of Love. Bevor der zweite Film losgeht, wird der rote Teppich noch einmal aufgerollt und geputzt. Er ist nämlich tatsächlich ganz schön dreckig von endlosen Schuhabdrücken. Als wir dann über den Teppich laufen dürfen, fallen vor allem die ungezählten Selfies auf, die die Leute darauf machen, auch die sogenannten Stars. Selfies sind eigentlich verboten, aber viele Filmstars missachten das Verbot aus Protest. Auf der Leinwand, wo das Geschehen auf dem roten Teppich noch einmal für alle übertragen wird, sind die entsprechenden Bilder vom Bildermachen zu betrachten. Man könnte das Ganze auch eine groß angelegte iPhone-Werbung nennen.

Abgesehen vom roten Teppich muss man an etwa fünf bis sechs ernsthaft aussehenden Menschen in Anzügen vorbei; ich nenne sie Schwellenwächter oder auch Vorzimmerdamen. Damit soll wohl die Spannung gesteigert werden. Immer wieder muss auch das Ticket vorgezeigt werden, dann wird man abgetastet, und die Tasche wird oberflächlich inspiziert – nicht wirklich ernsthaft, es scheint einfach zum allgemeinen Brimborium zu gehören, dass man hier kontrolliert und zugleich meistens sehr freundlich begrüßt wird, als sei man damit in den Club aufgenommen.

Weiter geht es dann im „Grand Théâtre Lumière“. Sicherlich der riesigste Kinosaal, in dem ich jemals war. Rot überzogene Sessel, die alle erstaunlich hohe Lehnen haben. Hier wartet man dann sehr lange, denn der offizielle Abschluss des Einlasses ist bereits vierzig Minuten vor Beginn des Films. Bei der Premiere von Valley of Love glüht schließlich die Kinoleinwand auf, um Gérard Depardieu und Isabelle Huppert auf dem roten Teppich draußen zu zeigen: wie sie ihre Ankunft zelebrieren, genervt Autogramme schreiben, sich für die Presse zurechtstellen; alle drinnen im Kino klatschen dazu pausenlos. Es braucht eine gefühlte Ewigkeit, bis die beiden Stars das Gebäude betreten, noch einmal vorm Saal warten (wie Boxkämpfer, bevor sie hineingelassen werden), dann schließlich einziehen, allen möglichen Menschen die Hände schütteln (Agnès Varda zum Beispiel), um schließlich irgendwann sitzen zu dürfen, um sich den Film anzuschauen. Guillaume Nicloux’ Valley of Love spielt interessanterweise mit dem Stardom Hupperts und Depardieus. Letzterer agiert als eine Version seiner Selbst, im Film wird er von einem amerikanischen Touristen angesprochen, der zwar nicht seinen Namen weiß, aber weiß, dass er ein Star ist und ein Autogramm haben will. Depardieu unterschreibt mit Robert De Niro.

Applaus für die Produktionsfirmen

Valley of Love 02

Vor dem Film kommt natürlich die Cannes-Festival-Animation: die rote Treppe, im Hintergrund das Meer, dann der goldene Lorbeerkranz, dazu das „Aquarium“ aus dem Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns. Immerzu wird wild geklatscht, auch bei jedem einzelnen Logo der Produktionsfirmen, mal mehr, mal weniger euphorisch. Definitiv ist das Publikum bei der Premiere von Valley of Love entschieden euphorischer als zuvor bei der Mittagsvorstellung von Justin Kurzels’ Macbeth, wo selbst der Applaus am Ende nicht ganz überzeugt erscheint. Aber das Klatschen für die Produktionsfirmen verrät viel über Cannes: Dies ist ein Produktionsfestival, ein Festival für das Business, trotz der Menschenmassen in Abendgarderobe, die draußen betteln. Die sind, ebenso wie wir, nur die Statisten von Cannes. Edel gekleidete Herumsteher, die wie bei einem Filmdreh den Party-Glamour-Hollywood-Look garantieren.

Bleibt die Frage, wofür es bei all diesen willigen Statisten noch die „Short Film Corner“ braucht, deren Katalog nicht in der blauen Cannes-Tasche ist, die letztlich überhaupt keine Aufmerksamkeit beim Festival bekommt und deren Räumlichkeiten leergefegt und im Keller versteckt sind. Wir kommen zu dem Schluss, dass hier vielleicht ein Versprechen für die Zukunft inszeniert wird. Cannes eben nicht ein Festival der Abendroben, Selfies und großen Stars, sondern immer auch, immer noch: Treffpunkt für sehr, sehr viele Filmemacher aus aller Welt.

Gwendolen van der Linde

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