Der Terrorist als Medienstar
Glamour und Verzweiflung: Olivier Assayas’ Carlos ist alles, was Soderberghs Che gern gewesen wäre – Cannes-Tagebuch, 6. Folge

Das war mal etwas anderes, nach den ganzen Sittenbildern des Finanzkapitalismus: Carlos von Olivier Assayas, in der Vergangenheit auch unter dem Titel The Jackal gehandelt, erzählt aus dem Leben von Ilich Ramírez Sánchez, einem militanten Linken aus Venezuela, der in den 1970er Jahren unter seinem „Kampfnamen“ Carlos zum internationalen Terrorist und Medienstar wurde.

Viel hatte man schon im Vorfeld über Carlos gehört. Der Film war gerüchteweise für die Berlinale angekündigt, dort aber offenbar abgelehnt worden. Aber das betraf nur die zweieinhalbstündige Fassung, die irgendwann auch bei uns ins Kino kommen soll. In Cannes wurde am Mittwoch eine fünfeinhalbstündige Fassung gezeigt, die aus drei Teilen besteht, am gleichen Abend lief der erste Teil auch im französischen Pay-TV bei Canal+.
Und hier gab es im Vorfeld Streit hinter den Kulissen. Man erfuhr, dass Cannes-Leiter Thierry Frémaux den Film offenbar in den Wettbewerb einladen wollte, bei Gilles Jacob, seinem Vorgänger, der hier als eine Art Festival-Aufsichtsratsvorsitzender fungiert, aber auf vehementen Widerstand traf. Jacob wehrte sich dagegen, „Fernsehfilme“ in Cannes zu zeigen, sodass die „Sélection officielle“ außer Konkurrenz dann ein guter Kompromiss war. Am heutigen Donnerstag debattieren die französischen Zeitungen in großen, zum Teil ganzseitigen Artikeln über den Film.
Kurz gesagt handelt es sich bei Carlos um einen der bisher besten Filme des Festivals. Dynamisch, überzeugend und schön: Kino aus Bewegung, Hitze und Sinnlichkeit. Voller Action, und extrem ökonomisch erzählt: ein knapper, kühler Film, der nicht so fernsehredakteursmäßig „auserzählt“ ist wie derartige Filme sonst, sondern gelassen in Form offener Skizzen, zugleich mit dem Grundtempo und dem Gefühl für Rhythmuswechsel, das Assayas beherrscht wie nur wenige.
Der Film setzt 1973 ein, als Carlos bei der PFLP anheuerte, und schildert im ersten Teil dessen jähen Aufstieg zu einer internationalen Berühmtheit, im zweiten Carlos’ bekannteste Aktion: die Geiselnahme auf der OPEC-Konferenz in Wien. Im dritten Teil geht es dann primär um den zunächst allmählichen, dann sich beschleunigenden Abstieg Carlos’ bis zu seiner Verhaftung 1994. Eine gelungene Mischung aus Glamour und Verzweiflung.
Das alles ist unglaublich reich und anregend, voller hochinteressanter und kaum auszuschöpfender Details, verführerisch, ohne zu verharmlosen. Der Film zeigt die Terroristen als Mörder in politischer Absicht, die aber von den persönlichen ökonomischen Zielen manchmal schwer zu trennen ist. Er zeigt sie auch guten Wein und viel Whisky trinkend, rauchend, tanzend, in schicken Autos und im Bett, in kleinen Hotels und großbürgerlichen Häusern. Terrorismus war seinerzeit eine globale New Economy, und so hat Carlos auch eine ferne Ähnlichkeit mit den gewissenlosen Finanzhaien unserer heutigen Epoche.
Hervorragend fängt der Film auch die Stimmung des Kalten Kriegs ein, die vielen Verwicklungen aus Freund-Feind-Beziehungen, Verschwörungen, großen Strategien und kleinen Taktiken. Eine Welt, in der jeder auch sein eigenes Süppchen kocht. In einer großartigen Szene sieht man Juri Andropow, seinerzeit KGB-Chef, wie er die versammelten Vertreter der linksradikalen Organisationen in Bagdad zur Ermordung des ägyptischen Staatschefs Sadat aufruft.
Die über fünf Stunden spürt man nie. Assayas’ Film ist alles, was Soderberghs Che gern gewesen wäre: ein Biopic über einen Berufsrevolutionär, das politische Gewalt ernst nimmt, das den Wahnsinn im Radikalismus einfängt, ohne ihn blind zu verdammen, das klar macht, dass man diese Menschen Mörder nennen muss, ohne dass deswegen viel über sie gesagt wäre.
Carlos ist auch eine wunderbare Schauspielarbeit, und einmal mehr ein Beispiel dafür, dass deutsche Filmemacher zu wenig (und immer nur das Gleiche) mit ihren Schauspielern anzufangen wissen: Julia Hummer hat man außer bei Christian Petzold nie so gut gesehen, wie hier als „Nada“, Nora von Waldstätten ist souverän und facettenreich in der schwierigen Rolle der immer als kleinbürgerlich unterschätzten Carlos-Gattin Magdalena Kopp, Alexander Scheer als Weinrich eine Wiederentdeckung. Daneben natürlich Édgar Ramírez in der Titelrolle: großartig.
Ein „Fernsehfilm“ ist Carlos, so wie auch Dominik Grafs Im Angesicht des Verbrechens einer ist: ein Werk, das die Konvention des 90-Minuten-Formats sprengt, das trotz der groben Dreiaktstruktur eher eine epische Erzählweise – „und dann …, und dann …, und dann …“ – hat und das trotzdem nur auf der großen Leinwand seine ganze Schönheit entfaltet.
Kommentare zu „Der Terrorist als Medienstar“
L. Beyer
Die ehemalige Frau von Carlos hat ein interessantes Buch geschrieben, in dem sie tiefe, menschliche Einblicke in die soziopathischen Strukturen von Carlos und dem linksradikalen Umfeld aufzeigt.Psychologisch sehr interessant.
Magdalena Kopp: Die Terrorjahre