Bitte genau hinschauen: Das 68. Filmfestival von Locarno
Beim Filmfestival von Locarno präsentiert sich das zeitgenössische Kino vielfältig und voller Lust an formalen Experimenten. Einige der schönsten Filme forderten zum genauen Hinsehen auf.

Mit sehr sorgfältigem und genauem Blick auf die Arbeit von japanischen Austernzüchtern beginnt Kazuhiro Soda seinen neuen Film Oyster Factory (Kaki kouba). Plötzlich bleibt die Kamera an einem Kalender hängen, auf dem der 9. November markiert ist: Die Chinesen kommen, steht dort. Es herrscht ein Mangel an japanischen Arbeitskräften, und um konkurrenzfähig zu bleiben, entschließen sich immer mehr Züchter dazu, chinesische Saisonarbeiter zu engagieren. So auch Hirano, dessen Austernfabrik den Mittelpunkt des Films bildet. Wie bereits in seinen früheren Filmen Campaign (Senkyo, 2007) oder Mental (Seishin, 2008) ist auch Oyster Factory ein Film, der dem Zuschauer Zeit und Raum lässt, die komplexen sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenhänge in Ruhe zu erschließen. Zwar mag es einige rassistische Vorurteile bei der lokalen Bevölkerung geben, doch der Film macht klar, dass die Situation vielschichtiger ist und die Neugier und Freude auf die Saisonarbeiter schlussendlich überwiegt. Oyster Factory ist auch ein Film über Flüchtlinge. Nicht nur die chinesischen Arbeiter sehen sich gezwungen, auf der Suche nach Arbeit ihre Land zu verlassen, sondern auch Hirano, der vor den Folgen des Reaktorunfalls in Fukushima fliehen musste.
Reaktion auf Gesehenes

Neben Andrzej Zulawskis Cosmos, der in seiner Hysterie ein Gegenpol zu Oyster Factory bildete, und Chant d‘hiver von Otar Iosseliani, war der Höhepunkt des Wettbewerbs der neue Film von Hong Sang-soo. In Right Now, Wrong Then (Jigeumeun matgo geuttaeneun teullida) schickt er seinen Protagonisten, den Regisseur Ham Chun-su, nach Suwon. Der Filmemacher soll dort sein neustes Werk vorstellen, doch die Veranstalter haben die Aufführung um einen Tag verschoben. Also streift er durch die Stadt und trifft auf die Künstlerin Yoon Hee-jung. Man kommt ins Gespräch, geht zuerst Kaffee trinken, dann Soju. Hong Sang-soo erzählt diese Geschichte zweimal, die erste Version nennt er Right Then, Wrong Now und darin zeigt er Regisseur Ham, wie er die junge Künstlerin für sich zu gewinnen versucht, indem er verschweigt, dass er eigentlich verheiratet ist. Die zweite Version nennt sich Right Now, Wrong Then. Dieses Mal ist Chun-su ehrlicher. Er gesteht Hee-jung, dass er sich in sie verliebt hat, dies jedoch nicht möglich ist, da er bereits verheiratet ist. Hong drehte die erste Version zuerst und zeigte sie anschließend seinen Schauspielern, erst dann begannen die Arbeiten mit dem zweiten Teil. Diese filmische Aufforderung, Geschehenes als Wiederholung zu erleben und darauf zu reagieren, lässt Right Now, Wrong Then fast zu einem Metafilm werden. Vor allem ist es ein Akt der Großzügigkeit und der Freiheit gegenüber seinen Schauspielern, aber auch gegenüber uns Zuschauern. Alle sind aufgefordert, etwas Neues zu entdecken.
Die Illusion und ihre Aufhebung

Auch der neue Film von Ben Rivers mit dem schönen Titel The Sky Trembles and the Earth Is Afraid and the Two Eyes Are Not Brothers besteht aus zwei Teilen. Der Anfang ist ein Making Of des zweiten Films von Oliver Laxe, den dieser in Marokko dreht. Doch dann verlässt Laxe das Set und fährt in die Wüste. Was folgt sind Gefangenschaft und Folter, man reißt ihm die Zunge raus – und schließlich wird er in ein Spielzeug (in einem Kostüm aus Dosendeckeln) verwandelt, das für die lokale Bevölkerung tanzen muss. The Sky Trembles ist ein Film, der mit der Wahrnehmung des Kinos spielt. Der erste Teil des Films liest sich wie eine Einführung in die Erschaffung der filmischen Illusion. Im zweiten Teil, der auf einer Kurzgeschichte von Paul Bowles basiert, wird es jedoch komplizierter. Rivers spielt direkt mit unserer Wahrnehmung. Kurz bevor Laxe gefangen genommen wird, stört er beispielsweise den nahtlosen Fluss der Bilder mit einem dazwischen eingefügten Einzelbild; für den Bruchteil einer Sekunde ist die perfekte Illusion aufgehoben.

Eine Entdeckung lief am Ende des Wettbewerbs: Happy Hour von Hamaguchi Ryusuke. Über epische, schöne 317 Minuten erzählt dieser Film von vier Frauen in Kobe, die beste Freundinnen sind und das Gefühl haben, sich alles sagen zu können. Diese Konstellation gerät ins Wanken, als eine der vier, Jun, sich von ihrem Mann scheiden lassen möchte und plötzlich verschwindet. Hamaguchi nimmt sich in seinem dritten Spielfilm viel Zeit, das Leben der vier Frauen (und dessen Ehen und Liebschaften) ausführlich zu erzählen. Der Vergleich mit dem seriellen Erzählen einer Fernsehserie bietet sich an, doch noch besser lässt sich der Film mit einem langem und intimen Brief vergleichen, der sich erlaubt, immer wieder abzuschweifen. Happy Hour ist kein perfekt erzählter oder perfekt inszenierter Film. Aber die Summe seiner Einzelteile, seine langen Sequenzen, wie beispielsweise ein Wochenendausflug der Frauen in eine Stadt mit Thermalbäder, oder eine Lesung, in der eine junge Autorin von eben diesem Ort einen Kurzgeschichte vorträgt, machen ihn zu einem faszinierenden Stück, und man lässt sich gerne durch die fünf Stunden führen.
Der Schnitt als Konstante

Eine Sektion des Festivals verdient es, besonders hervorgehoben zu werden. Seit einigen Jahren existiert mit „Signs of Life“ eine Reihe, die sich den „Grenzgebieten des Kinos“ und „neuen Erzählformen und innovativen Ausdrucksweisen“ widmet. Sowohl der Essayfilm Machine Gun of Typewriter? von Travis Wilkerson als auch 88:88 von Isiah Medina sind zwei außergewöhnliche Filme dieser Reihe, die versuchen, unserer Welt und deren Wahrnehmung ein Abbild zu geben. Machine Gun or Typewriter? ist zuerst eine Liebesgeschichte: Ein Mann sucht nach einer Frau, die er in Los Angeles getroffen hat und die plötzlich verschwunden ist. In der Form einer Radiosendung spricht der Mann von ihren Begegnungen und Erlebnissen. Ist sie tot oder ein Spitzel der Polizei? Die Schilderung dieser Liebe, vorgetragen von Travis Wilkerson, tut weh. Es ist jedoch auch ein Film über eine alternative Geschichte von Los Angeles: über die Niederschlagung der Gewerkschaften, über einen verlassenen jüdischen Friedhof und Bombenattentate. Unterbrochen werden diese verzweifelten Sendungen in den kalifornischen Äther von Bildern aus Vietnam und der Occupy-Bewegung. Es ist ein hochpolitisches Werk, das sich fragt, ob denn nun das Wort oder die Waffe effizienter ist.

Der mit Spannung erwartete Debütfilm 88:88 von Isiah Medina, einem jungen Kanadier, der bisher eine Reihe von Kurzfilmen gedreht hat, teilt mit Machine Gun or Typewriter? die zentrale Bedeutung der Montage. Bei Wilkerson geht der Schnitt jedoch immer von den jeweiligen Bildern aus. Medina geht anders vor. In knapp 60 Minuten entfesselt er einen Bildersturm: Bilder überlagern sich, dauern kaum eine Sekunde lang, werden digital verfremdet, gestört. Der Titel 88:88 bezieht sich auf den Moment, wenn ein digitaler Zähler neu gestellt wird und das komplette Ziffernblatt aufleuchtet. Diesen Moment der Suspension, des Moments, in dem weder die Vergangenheit noch die Zukunft existiert, greift Medina auf. Es ist ein anstrengender Film, der aber in jeder Sekunde originell und aufregend ist. Ist dies das innovative Kino? Vielleicht. Die Faszination dieses Werkes rührt vor allem daher, dass sich Medina von den Bildern abwendet und den Schnitt als zentrales kreatives Element unserer Wahrnehmung beschwört. Im Publikumsgespräch sagte er: „Es gibt keine stabilen Bilder mehr, keinen gemeinsamen Nenner, was bleibt sind nur noch Schnitte.“
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