Berlinale 2018: Empfehlungen
Am Donnerstag starten die 68. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Unsere Autoren haben sich schon mal im Forum und Panorama umgesehen, welche Filme man sich nicht entgehen lassen sollte.
Forum:
Grass von Hong Sang-soo

Man sieht sich wieder bei Hong Sang-soo: auf eine Zigarette, eine Tasse Kaffee, einen Soju oder eine Dose Thunfisch. Man sieht sich wieder, um miteinander zu sprechen: über den Tod eines Geliebten, den schwindenden Lebenswillen eines Freundes. Man sieht sich missverstehen, Verantwortung und Schuld hin und her schieben, derweil Kim Min-hee, hinter ihrem Laptop versteckt, in der Ecke lauert und gierig die Gespräche der Tischnachbarn belauscht. Immer passiert dies alles in oder vor dem melancholischen kleinen Café, das mit langsamen, mal zielgerichteten und mal abschweifenden Zooms und Schwenks erkundet wird. Man sieht sich wieder bei Hong Sang-soo, immer auf die gleiche und doch jedes Mal auf eine völlig neue Art.
Karsten Munt
Notes on an Appearance von Ricky D’Ambrose

Geprägt wird Notes on an Appearance von einer Figur, die gar nicht selbst auftritt, sondern nur vermittels ihrer medialen Spuren. Man sieht den (fiktiven) Philosophen Steven Taubes als Foto auf einem Poster, festgefroren inmitten einer feurigen Ansprache, und man hört ihn auf alten Tonbändern, wie er gegen die Verkommenheit unserer politischen und gesellschaftlichen Ordnung anschimpft und euphorisch ihren unausweichlichen Zusammenbruch ankündigt. Die jungen Intellektuellen in Ricky D’Ambroses Film können sich dem dunklen Reiz dieses apokalyptischen Propheten nie ganz entziehen, obwohl sie genau das zu fürchten scheinen, was Taubes verkündet: dass die Welt jeglichen Zusammenhalt verliert und die Wirklichkeit vollkommen unlesbar wird. Als David plötzlich verschwindet und sein Freund Todd sich hilf- und ziellos auf die Suche begibt, reiht der Film isolierte Eindrücke, voneinander losgelöste Figuren, physische Bruchstücke aus Davids Leben aneinander – und lässt darin doch kein Muster oder gar eine Erklärung für Davids Verschwinden erkennen. Angesichts dieser Unergründlichkeit wird der Reiz von Taubes wuchtigen Endzeitvisionen mehr und mehr verständlich. Denn irgendwann ist man der Angst einfach nur müde, und dann wünscht man sich nur eines: den Zusammenbruch, vor dem man sich bislang fürchtete, wollen zu können.
Philipp Schwarz
Classical Period von Ted Fendt

Ganz früh am Morgen in Philadelphia treffen sich ein Mann und eine Frau, beide schlaflos durch die Straßen streifend, an einer Kreuzung und diskutieren prompt über Lyrik. Ihr Ton bleibt gemessen, kontrolliert, emotional gedimmt, und so bleibt es diese ganzen 60 Minuten, in denen Ted Fendt die Zusammenkünfte einer belesenen Clique zeigt, mit den Teilnehmern oft einzeln im Bild und vielen Close-ups auf Zeilen aus Dantes Göttlicher Komödie. Doch liegt diesem etwas spröden kleinen Film nicht daran, seine noch viel spröderen Figuren als einander und ihrer Umwelt entfremdete Geistesmenschen vorzuführen. Er mischt sich nur als ein so genauer wie zurückhaltender Beobachter in ein seltsames kleines Soziotop, das sich in seine Umgebung dann doch wie in ein langjähriges Zuhause fügt, wenn auch in ein recht schattiges, kühles Zuhause. Sie stehe im Sommer gern früh zum Lesen auf, um der Mittagshitze zu entrinnen, meint die Frau in der Clique: Das bringt die Betriebstemperatur in und von Classical Period genau auf den Punkt.
Maurice Lahde
The Son von Alexander Abaturov

Dima ist mit 21 Jahren im Nordkaukasus gefallen. Sein Tod wirft einen Schatten über die Bilder, in denen Alexander Abaturovs Debütfilm die Ausbildung seiner Nachfolger zeigt. Es sind junge Männer aus allen Teilen Russlands, die das Mantra von Ehre, Kameradschaft und Patriotismus ebenso verinnerlichen wie den Drill, der ihr Leben bis auf die letzte Sekunde bestimmt. Es ist der Kontrast – zwischen Einheit und Individuum, zwischen Soldat und Mensch –, den The Son in der Trauer herausarbeitet. Eine Struktur, die immer wieder bewusst markant hervorsticht und den Film zu einer Art trockenen Elegie macht, die nicht nur Dima, sondern und auch die Folgegeneration jener Männer beklagt, die erst wieder als Individuen zurückkehren werden, wenn ihr Dienst endet – lebendig oder tot.
Karsten Munt
When I Am Dead and Pale von Živojin Pavlović

Immer wieder trifft man im Neuen Jugoslawischen Film der 1960er und 70er auf das markante Gesicht von Dragan Nikolić, der ein bisschen aussieht wie eine hübschere Variante des jungen Winfried Glatzeder und damals völlig zu Recht als Sex-Symbol galt. In Živojin Pavlović’ When I Am Dead and Pale (Kad budem mrtav i beo, 1967) spielt Nikolić einen nur mäßig sympathischen Slacker, der nicht nur jedem Rock hinterherjagt, sondern auch jeder Gelegenheit, mit möglichst wenig Aufwand an möglichst viel Geld zu kommen. In der tristen Provinz versucht er sich schließlich als Schlagersänger und eckt dort mit seiner demonstrativen Faulheit bei den eifrigen Genossen an. Ähnlich wie sein Held lässt sich Pavlović in seinem Film treiben, interessiert sich eher für kleine Episoden und dokumentarische Beobachtungen als dafür, seinen Misfit in ein dramaturgisches Korsett zu zwängen.
Waldheims Walzer von Ruth Beckermann

In der kollektiven Erinnerung hat sich die Affäre um die Kriegsvergangenheit des österreichischen Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim aus dem Jahr 1986 zu einer Abfolge prägnanter Sätze verdichtet: „Wir nehmen zur Kenntnis, nicht Kurt Waldheim war bei der SA, sondern nur sein Pferd.“ – „Ich habe nur meine Pflicht getan, wie 100.000 andere Österreicher auch.“ – „Jetzt erst recht!“ Ruth Beckermann zeichnet den Verlauf dieser Kontroverse in Waldheims Walzer mit großer Genauigkeit und fast journalistischer Nüchternheit nach, als müsste sie dieses Ereignis, an dem sie durch Protestaktionen auch selbst beteiligt war, nochmal in allen Details vor sich ausbreiten, um vielleicht doch noch auf einen verborgenen Sinn, eine eindeutige Pointe zu stoßen. In diesem Versuch wird die Waldheim-Affäre vor allem als ein – noch aus heutiger Sicht sehr zeitgenössisches – Medienphänomen erkennbar. Vielleicht würden derartige Debatten um die NS-Zeit heutzutage einen anderen Verlauf nehmen. Doch die Mobilisierung einer Volksseele, der man ihr Geschundensein zuerst noch einreden muss – die funktioniert heute genauso wie damals.
Philipp Schwarz
The Green Fog von Guy Maddin

Intertextualität, das wäre so naheliegend wie großer Quatsch. Klar geht es Guy Maddin um Bezüge, um Filmgeschichte, um die Tatsache, dass Film immer Geschichte, immer Dialog ist, dass wir da Sachen sehen, weil wir sie schon gesehen haben, dass wir Filme sehen und dabei an andere denken, dass es da ein Archiv gibt, nicht nur abstrakt in der Welt oder konkret in irgendeinem Keller, sondern irgendwo inmitten unserer Hirnströme. Aber könnte jemand weiter entfernt sein von so einer Idee vom „Film als Text“ als der geniale Film-Verstümmler/Fabulierer/Weiter- und Zurückspinner aus Winnipeg, Manitoba? Da gibt’s keinen Text, da gibt’s nur einen grünen Nebel, der durch die Filmstadt San Francisco nebelt, Hitchcocks Vertigo läuft vor unseren Augen ab, aber nicht als Präsenz, sondern als Absenz, als Erinnerungsstruktur, als dramaturgische Hauntologie, und als Ausrede für Filmschnipsel aller Art, für Leute, die auf Dächer klettern und fast runterfallen, Autos, die irgendwo ankommen, die Golden Gate Bridge aus tausend Perspektiven, Treppen hoch, Treppen runter, alles angemessen vertigonös, der „beste Film der Filmgeschichte“ durch die Augen anderer Filme, die in San Francisco spielen, auf einmal ganz geerdet. Und immer wieder sehen wir dieselben Typen auf ihrer Meta-Ebene sitzen und auf den Bildschirm starren, eben diesen Film gucken, den wir gerade gucken, nur wollen sie noch irgendein Rätsel lösen und gucken deshalb grimmig. Sagen tun die Menschen eh nichts in diesem Film, Maddin hat die Sätze meistens rausgeschnitten, und die Dialoge werden zu Dialogaffekten. Toller Trip mal wieder.
Till Kadritzke
14 Apples von Midi Z

14 Tage Klosterurlaub, jeden Tag einen Apfel – so erholt sich ein gutbürgerlicher Geschäftsmann in Myanmar von seinem Alltag. Die Apfelkur bringt ihre Entspannung hauptsächlich auf dem Rücken der Landbewohner, die für die Hobby-Heiligen ihr Erspartes in den überquellenden Spendensack werfen. Das wahre Dharma ist in den quasi-dokumentarischen Plansequenzen nur einer Gesellschaftsform verpflichtet: der Diktatur der Bettelmönche.
Karsten Munt
Infinite Football von Corneliu Porumboiu

Laurentiu will die Fußballregeln neu erfinden. Wie das? Die zwei Mannschaften teilt er in Untermannschaften auf, die zwei Feldhälften gliedert er in weitere Hälften et cetera. Spitze Ecken sind nicht gut, also rundet er sie ab. Zwischen dieser Sisyphos-Aufgabe und dem öden Job als Kleinstbeamter ist Laurentiu gespalten und sagt, er sei so etwas wie ein Superman. Der neue Dokumentarfilm von Corneliu Porumboiu handelt wieder einmal von Freiheit und Regeln. Corneliu und Laurentiu, Regisseur und sein Protagonist, sind sehr neugierig aufeinander. Delikat und beharrlich, sanft und trotzig stellen sie sich gegenseitig die Hebammenfragen, und diese provinzielle Dialektik ist ein großes Vergnügen. Ein heiterer Film, aber alles ist ernst. Natürlich geht es nicht um Fußball. Um die eigene Vergangenheit dagegen, darum geht es immer.
Olga Baruk
Victory Day von Sergei Loznitsa

Das sowjetische Ehrenmal ist ein Gelände strenger Symmetrie. Exakt gespiegelt und präzise auf die gewaltige Statue ausgerichtet, die das Hakenkreuz mit dem Schwert zertrümmert, breitet sich die Gedenkstätte im Herzen des Treptower Parks aus. Zum Tag des Sieges, dem 9. Mai, der jedes Jahr Tausende Menschen dorthin führt, inszeniert Sergej Loznitsa die Gedenkstätte als Wimmelbild, verdeckt die Architektur des Mahnmals unter dem Andrang von Antifaschisten, russischen Motorradgangs und linken Verschwörungstheoretikern, die sich um einen Platz an der vordersten Front der Deutungshoheit drängeln. Victory Day zeigt, dass die Geografie der Erinnerung auch nach 70 Jahren noch von den Massen geformt wird.
Karsten Munt
Panorama:
Shock Waves – Diary of My Mind von Ursula Meier

Ein Junge, der seine Eltern getötet hat, und eine Französischlehrerin, die nur die Kreativität ihrer Schüler fördern will, in den Augen des ermittelnden Polizisten aber Mitschuld an der Tat trägt. In ihrem neuen Film hält sich die Schweizer Regisseurin Ursula Meier nicht lange mit naheliegenden Fragen nach Schuld und Verantwortung auf. Vielmehr widmet sie sich dem verzwickten Verhältnis zweier Outcasts – einer Beziehung, die sich auch am Ende des Films nicht ganz greifen lässt. Ist die ältere Frau für den Mörder nun Mutterersatz, Mentorin, Seelenverwandte, vielleicht sogar love interest? Weil sich sonst niemand um den Jungen kümmert, muss sie sich widerwillig dieser Aufgabe annehmen. Und Meier nimmt diese Zwangsgemeinschaft zum Anlass, ihre Figuren aus respektvoller Distanz zu umkreisen – empathisch, aber nicht anmaßend. Diary of My Mind reichen zwei Figuren und siebzig Minuten, um ein fesselndes Drama zu erzählen, über die Unfähigkeit, die Möglichkeit auf ein besseres Leben nicht genutzt zu haben, und den Schmerz darüber.
Michael Kienzl
That Summer von Göran Hugo Olsson

Liste der Dinge, die das Herz höher schlagen lassen: innere und äußere Schönheit, die Farben Rot und Grün, goldgebräunte Haut, Stimmen aus Samt, Mattes und Glänzendes, Erdbeereis, die Tagebücher von Peter Beard. Auf kunstvolle Weise gebundene Kopftücher. Stapelweise Bücher, haufenweise Kissen. Bilder, die aus Katzen bestehen, und Bilder aus Muße. Glamour und ein wild zugewachsener Garten. Göran Hugo Olsson montiert wieder Found-Footage-Aufnahmen, diesmal treibt ihn aber keine realpolitische Dringlichkeit, kein Gefühl der Ungerechtigkeit lässt ihn auf diese Suche gehen. Vielmehr steht ein Haus im Verfall, zwei Frauen verlieren langsam den Realitätsbezug. Big Edie, Little Edie und ihr roter Lippenstift. Lasst uns den Dingen nachtrauern, die uns abhandengekommen sind: Klarheit, Chansons, verbindliche Freundschaft – kein unverbindliches Wohlwollen! That Summer fordert auf eine ganz ruhige Weise. Ein Film für sich. Bittersweet.
Olga Baruk
Foreboding von Kiyoshi Kurosawa

Von einem Alien mit der Fingerspitze berührt zu werden ist nicht immer so heilsam wie bei Spielbergs E.T. Wenn dir Dr. Makabe – gespielt von dem schönen Masahiro Higashide, dessen Lächeln frösteln macht – auf die Stirn tippt, dann wird er einen Teil deines Ichs aus dir herausreißen, vielleicht deine Vorstellung von Familie, sodass dir dein Vater ab jetzt als ein Spuk in den eigenen vier Wänden erscheint, vielleicht deine Ängste, vielleicht deine Liebe, je nachdem, in welchen Zustand er dich gerade getrieben hat auf seiner Jagd nach den emotionalen Konzepten unserer Spezies, mit der er die Invasion der seinen vorbereiten will. Der Arzt, dessen Weg in sich zusammengefallene Körper säumen, ist ebenso unheimlich wie die über der Stadt liegende Vorahnung des Weltuntergangs, spürbar in jedem schattigen Wohnzimmer und jedem sich bauschenden Vorhang, jeder sonnigen Straße und jedem Krankenhausflur, und in vielen Gesichtern. Kiyoshi Kurosawas 140-minütiger neuer Film Foreboding (Yocho) ist ein Zusammenschnitt aus der gleichnamigen TV-Miniserie, die bereits letztes Jahr in Japan zu sehen war.
Maurice Lahde
Zentralflughafen THF von Karim Aïnouz

Bereits mit seinem letzten, im Wettbewerb präsentierten Film Praia do Futuro bewies der Brasilianer Karim Aïnouz, dass es für einen anderen Blick auf Berlin manchmal einen Außenstehenden braucht. Und auch sein Dokumentarfilm, der sich dem Flughafen Tempelhof als geschichtsträchtigem Ort, temporärer Flüchtlingsunterkunft und gesellschaftlichem Schmelztiegel widmet, zeichnet sich durch eine solche Perspektive aus. Unmittelbar und neugierig widmet sich der Regisseur seinem Schauplatz. Der immer wieder übers Feld schweifende Blick findet erstmal alles, was sich hier abspielt, interessant, ohne falsche Scheu vor Pathos und Klischees. Zentralflughafen THF sieht im Tempelhofer Feld ohnehin nicht nur den realen Ort, sondern genauso die Projektionsfläche, die es für Touristen und Flüchtlinge sein kann – und findet dabei sogar Spuren deutscher Romantik. Vielleicht braucht es auch jemanden wie Aïnouz, um zu einer Luftaufnahme des Berliner Stadtpanoramas ganz unbekümmert Wagners erhaben donnernde „Rienzi“-Ouvertüre aufzudrehen.
Michael Kienzl
Kommentare zu „Berlinale 2018: Empfehlungen“
Monsieur Moinet
Danke für die Empfehlungen und Begleitung der Berlinale. Es wird ja derzeit viel über ihre Zukunft gesprochen, ich möchte mit Blick darauf an einer Stelle Wasser in den Wein gießen, ein Thema, das in Deutschland aus verbreiteter Nichtbetroffenheit allzu selten interessiert, aber kräftig im Hintergrund als hochaktueller Sortierungs- und Marginalisierungsmechanismus wirkt: Die Tickets kosten mittlerweile 12 Euro, im Wettbewerb 15 Euro (zzgl. 1,50 Euro Gebühr pro Ticket im Online-Verkauf, der ausschließlich per Kreditkarte geht). 2010 waren es, wenn ich mich richtig erinnere, 7/10 Euro. Das Ermäßigungsangebot von 50 % klingt, bald klang erstmal äußerst einladend, leider gilt es nur an der Tageskasse im jeweiligen Kino, d.h. populäre Veranstaltungen sind ohnehin ausgeschlossen, statt Geld muß enorm viel Zeit investiert werden, und eine Planung wird sowieso unmöglich, weil bei mehreren Filmen am Tag jedes einzelne Kino (in einer so großflächigen Stadt!) abgegrast werden muß mit dem ständigen Risiko, kein Ticket mehr zu erhalten und dafür andere Filme wieder zu verpassen. Und dann muß in der Schlange noch ein Nachweis (und ohne Foto auch noch ein Ausweis) vorgelegt werden, weil ärmere Menschen ja generell unter Betrugsverdacht stehen. Um die obigen Filme als Nicht-Berliner sicher sehen zu können, also per Online-Vorverkauf, müßte man 189 Euro bezahlen. Und dazu noch vor jedem einzelnen Film L'Oréal, Audi, Glashütte und dem ZDF für ihre natürlich vollkommen uneigennützige Großzügigkeit ganz im Sinne der Kinokultur danken. 189 Euro sind für einen Audi-Hybrid-Käufer vermutlich noch nicht einmal der Lack für einen Außenspiegel, vom monatlichen Regelsatz der Grundsicherung in Deutschland (also Sozialhilfe, ALG II etc.) sind es dagegen knapp die Hälfte, von einem Monatsgehalt in Zeitarbeit oder z.B. in vielen sozialen und künstlerischen Berufen auch ein nicht unerheblicher Anteil. Und da ist noch keine Übernachtung drin. Und noch kein Happen (Bio-?)Essen und kein Schluck (fair gehandelter?) (Bio-?)Espresso. Welche Kaufkraft jemand aus Süd- oder Osteuropa oder anderen Teilen der Welt im dort jeweils herrschenden Maßstab mitbringen muß, um an der Berlinale teilhaben zu können, wird hoffentlich deutlich. Ein Tagesticket in Locarno (in der Schweiz am Lago Maggiore!) kostet ca. 53 Euro. Da die Verpflegung hier aber ein Vielfaches von Berlin kostet, würde ich im Vergleich geradezu sagen, nur 53 Euro. Größtes Publikumsfestival der Welt, schön und gut, aber das ist alles andere als eine rein nichtambivalente und mit einem einzelnen Begriff abzuarbeitende Eigenschaft. Für die Einheimischen sowieso nicht, wie wir hoffentlich wissen. Welches Publikum denn? Wer ist das Publikum? Welches Publikum will die Berlinale? Welches Publikum soll die Berlinale wollen? Solche Schlagwörter werden so unfaßbar unterkomplex und auch ignorant verwendet. Natürlich sind in den letzten Jahren Kosten gestiegen, z.B. Energie, Mieten/Pachten und ggf. Löhne. Aber man kennt es von Musikkonzerten, komischerweise werden die immer teurer, je größer sie werden. Ich weiß, bei kleineren Konzerten fallen dann wieder Löhne weg, was durch Leidenschaft ausgeglichen werden muß usw. Alles komplex, aber bzw. deswegen möchte ich gerne das Thema Geld in eine Diskussion über die Zukunft der Berlinale eingebracht wissen. Weil sich das ach so liberale Festival sonst sein Publikum per Kontostand aussucht. Kino gehört möglichst allen, übrigens auch in seinen Anfängen eine seiner historisch bedeutsamen Eigenschaften, der Traum von einem egalitaristischeren Zugang zu Kunst und Unterhaltung (vielleicht einer der Gründe, warum nicht wenige Intellektuelle dem Kino damals sehr skeptisch gegenüberstanden). Ich beobachte seit einigen Jahren auch im Wochenkino, wie der Zugang zu Kino für viele Menschen mehr und mehr erschwert wird. Und wenn wir es ernst meinen mit unserer kritischen Haltung, sollten wir - gerade wir, die aus Leidenschaft und Überzeugung von seiner Relevanz viel Zeit und Energie in Kino stecken - in diesen Tagen auch steigende Kinopreise, oder präziser gesagt für weniger Menschen bezahlbare Kinopreise als Symptom und Ursache gesellschaftlicher Fehlentwicklungen und Marginalisierungen sehen. Das alles hat weniger mit Filmkritik im Werksinne zu tun, aber vielleicht ja doch damit, von wem Filme mit welchem Aufwand gesehen werden können und sollen und welche Art von Gemeinschaft durch Kino gestiftet werden soll.
Monsieur Moinet
Korrektur: Offenbar entfällt in diesem Jahr erstmals die Online-Gebühr in Höhe von 1,50 Euro pro Ticket. Dann wären es statt 189 noch 168 Euro für die obigen Filme.