„Regisseure und Schauspieler sind schwache, gierige Huren.“
Interview mit James Toback
Der amerikanische Regisseur James Toback erwartet keine gute Zukunft für das US-Independent-Kino. „Die Situation wird schlechter, nicht besser“, sagte er in einem Interview mit critic.de am Rande des Filmfests Oldenburg. Mitschuld tragen seiner Ansicht nach die Regisseure und Schauspieler, die für Geld alles machten – nur, um in die Branche hineinzukommen. In dem Gespräch geht es außerdem um Sex auf der Leinwand, die großen europäischen Regisseure und um den neuen Toback-Film Tyson.

Aus James Tobacks Leben ließe sich ein spannender Film machen. Ach was, viele Filme. Er war, wie er heute noch gern erwähnt, der einzige Weiße, der in den 60er Jahren an den Sexorgien in der Wohnung des schwarzen Football-Stars und Schauspielers Jim Brown teilnahm, er hat so ziemlich alle Drogen ausprobiert, bis er einmal von einem siebentägigen LSD-Trip nur noch mit ärztlicher Hilfe herunterkam, er hat mit dem Topterroristen Carlos in Pariser Cafés gesessen. Dazu kommt noch eine mittlerweile überwundene Spielsucht und eine äußerst illustre Versammlung von Freunden sowohl aus der Glamour- als auch aus der Halbwelt – was für ein Stoff!
Natürlich gibt es diese Filme längst, Toback hat sie selbst gedreht. Ob es um seine ausgiebig getesteten Fähigkeiten als Frauenaufreißer geht (The Pick-Up Artist, 1987, mit einem blutjungen Robert Downey Jr.) oder um seine Drogenexzesse (Harvard Man, 2001) – stets steckt viel Autobiografisches im Werk des Harvard-Absolventen. Sein Regiedebüt Finger (Fingers, 1977) mit Harvey Keitel erfuhr vor einigen Jahren als [filmid: 305]Der wilde Schlag meines Herzens (De battre mon cœur s’est arrêté, 2005) ein französisches Remake.
Tobacks neuester Film, eine Dokumentation über seinen Freund Mike Tyson, den er seit mehr als 20 Jahren kennt, lief dieses Jahr erfolgreich in Cannes. critic.de hat James Toback auf dem Filmfest Oldenburg getroffen, wo dem 63-Jährigen eine Retrospektive gewidmet war. Der Regisseur erscheint zum Interview in einem etwas fleckigen dunklen Anzug, Turnschuhen mit dicker, bunter Sohle und einem Polohemd, dessen Knöpfe offen sind. Es ist drei Uhr nachmittags, und als erstes geht Toback zum Büffet, weil er heute noch nicht dazu gekommen ist, etwas zu essen. Er schafft das Kunststück, während des Gesprächs fast ohne Pause zu reden und zugleich seinen Teller unauffällig und recht zügig zu leeren.

critic.de: Mr. Toback, in einem Artikel in der New York Times wurden Ihre Filme einmal so beschrieben: „Für James Toback ist Sex, was Gewalt für Tarantino ist.“ Auf den ersten Blick klingt das einleuchtend, auf den zweiten aber nicht mehr: Die Gewalt bei Tarantino steht für sich selbst, während Sie in Ihre Darstellung der Sexualität eine gewisse philosophische Ebene einschließen. Würden Sie dieser Unterscheidung zustimmen?
James Toback: Absolut. Sex findet mehr in der Psyche als im Körper statt. Nehmen Sie zum Beispiel ein verliebtes Paar, das sich auseinandergelebt hat. Sie sind physisch dieselben Menschen geblieben, aber statt sich wie bisher unwiderstehlich zu finden, würden sie nun lieber mit einem Hydranten oder einem Baumstumpf Sex haben als miteinander. Sie sind förmlich angeekelt vom anderen. Das ist ein großes dramatisches Thema für mich: Das Verhalten einer Person ist verbunden mit ihrer Sexualität. Bei der Entwicklung von Figuren frage ich mich immer: Wer ist das in sexueller Hinsicht?
Sie sagen, Sex sei mehr in der Psyche als im Körper, haben aber keine Scheu, die körperliche Seite der Sexualität recht deutlich zu zeigen, jedenfalls für amerikanische Verhältnisse.
Gerade das Körperliche ist das Interessante, weil es einem zeigt, was sich in der Psyche abspielt. Wenn Harvey Keitel in Fingers Sex hat, wirkt es, als hätte er keinen Spaß daran. Dann sieht man ihn in dieser Bar, wie er andere Männer anschaut, man sieht, wie er gekleidet ist. Dabei fragt man sich vielleicht, ob er schwul ist. Und als er zum Urologen geht und einen Finger in den Hintern gesteckt bekommt, schreit er auf, und man weiß nicht: Ist das einfach nur eine negative Reaktion, oder ist das ein Widerstand gegen das eigene Vergnügen, gefickt zu werden? All diese Fragen führen dazu, den Charakter zu verstehen. Hätte man nur konventionelle Sexszenen, würde man gar nichts erfahren.
Hätten Sie gern die Möglichkeit, so freizügig zu drehen wie in Europa, wo ja wesentlich Expliziteres möglich ist als in den USA?
Nun, ich musste die Szenen im Schnitt immer entschärfen – die Antwort lautet also ja.

Two Girls and a Guy von 1997 ist – unter anderem – ein Film gegen die Monogamie, nicht wahr?
Es ist ein Film über die Inkompatibilität von romantischem Impuls und Monogamie. Man kann nicht im Herzen romantisch sein und gleichzeitig monogam. Es sei denn ...
… es sei denn, man hat keinen starken sexuellen Trieb?
Nicht ganz. Ich würde sagen, es sei denn, die sexuelle Neugier wird komplett von dieser einen Person befriedigt. Aber was macht man, wenn die eigene Neugier grenzenlos ist? In der Regel lügt man. Sex ist wahrscheinlich der Bereich, in dem am meisten gelogen wird. Über Sex und über Geld.
In der Wohnung von Robert Downey jr., der in dem Film zwei Freundinnen hat, aber nicht die Kraft für eine offene Beziehung zu dritt, hängt ein Plakat von Truffauts Jules und Jim (1962) an der Wand. Wie wichtig ist das europäische Kino für Ihre Arbeit?
Mein Lieblingsregisseur ist seit der Zeit, als ich ein Filmbesessener wurde, ein Amerikaner: Orson Welles.
Ein Amerikaner zwar, aber stilistisch einer von den eher „europäischen“ Filmemachern.
Ja, das stimmt. Alle anderen meiner Favoriten waren sogar pures Europa: Godard, Truffaut, Fellini, bis zu einem gewissen Grad auch Fassbinder; oder Karel Reisz, der 1974 mein erstes Drehbuch, Spieler ohne Skrupel [The Gambler], verfilmt hat. Ingmar Bergman mag ich heute etwas weniger als damals. Alle, die mich beeinflussten, waren europäische Regisseure. In den USA dagegen gab es nichts, was mich so erregt hätte. Easy Rider (1969) war ein enorm einflussreicher Film in Amerika. Ich konnte ihn mir kaum bis zum Ende ansehen. Ich fand überhaupt nichts Besonderes daran.
Vielleicht weil Ihr eigenes Leben zu der Zeit wilder war als das der Helden von Easy Rider?
Vielleicht. Auch Brian de Palma interessierte mich nicht, Scorseses Filme fand ich enorm überschätzt. Der einzige Amerikaner dieser Periode, der mir gefiel, war Coppola. Der Pate [1972] und Der Dialog [The Conversation, 1974] habe ich geliebt.

Und das europäische Kino heute?
Mir gefällt Fatih Akin, aber vielleicht nur, weil er mir als Juryvorsitzender in Cannes dieses Jahr einen Preis für Tyson gegeben hat … Nein, seine Filme sind wirklich sehr gut. Ich mag auch Jacques Audiard, obwohl mir meine Version von Fingers besser gefällt als sein Remake, [filmid: 305]Der wilde Schlag meines Herzens. Grundsätzlich kehre ich aber eher immer wieder zu meinen alten Favoriten zurück, als neue Filme zu sehen. Ich habe das Gefühl, immer noch von ihnen zu lernen. F wie Fälschung [F for Fake, 1974, Regie: Orson Welles] habe ich 25 Mal gesehen.
Mir scheint, Sie sind nicht so sehr an einer gut durchstrukturierten Handlung – an plot – interessiert, dafür aber umso mehr an Situationen.
Das stimmt ganz genau. Plot ist nur eine Funktion, die sich aus den Charakteren und den Situationen ergibt. Zu fragen: „Was ist die Handlung eines Films?“, ist lächerlich. Das ist, als würde man fragen: „Was ist die Geschichte deines Lebens?“ Woher soll man das wissen? Alles ist unvorhersehbar. Ich entwickle vielmehr eine Figur für eine bestimmte Schauspielerin oder einen Schauspieler. Und aus dieser Figur ergibt sich dann die Handlung. When Will I Be Loved [2004] ist ausschließlich für Neve Campbell entstanden.
Und so entsteht dann der mäandernde Eindruck, den Ihre Filme oft hinterlassen. Wozu muss ein guter Schauspieler fähig sein, um mit Ihnen zu arbeiten?
Er muss zu allem ja sagen, was ich von ihm verlange.
Zu allem?
Und außerdem muss er Ideen mitbringen, an die ich selbst nie gedacht hätte.

Also gut improvisieren können?
Ja, aber auch schon vor dem Dreh. Ich muss die Schauspieler kennenlernen, wie sie vielleicht noch niemand anders kennengelernt hat. Sie müssen mir gegenüber offen sein. Und dann müssen sie bereit sein, alles zu versuchen, was ich ausprobieren möchte.
Und Mike Tyson kann all das?
Nein, weil er überhaupt nicht weiß, was zum Teufel er in der nächsten Minute tun wird.
Bei Tyson haben Sie zum ersten Mal digital gedreht.
Ich liebte es.
Das heißt, Sie werden in Zukunft dabei bleiben?
Ja. Es ist unglaublich, was man bei Hi-Def mit der Farbe anstellen kann. Es ist so, als würde man den Film in der Nachbearbeitung malen. Und dann die Mobilität! Und man muss nicht dauernd „Cut“ sagen, man kann einfach weiterdrehen. Die Schauspieler können mehr ausprobieren. Ich meine, ich liebe Film, aber in fünf Jahren wird niemand mehr auf Film drehen. Es ist so unnatürlich, die Schauspieler zu stoppen, bloß weil das Magazin leer ist. Tyson wäre auf Film unmöglich gewesen. Die Hälfte der wirklich guten Szenen darin passierten, als wir einfach die Kamera laufen ließen. Die Szene, in der er zusammenbricht und anfängt zu weinen zum Beispiel.
Die schwarze Kultur scheint Sie sehr zu faszinieren, allerdings nur ein bestimmter Teil dieser Kultur – die Hip-Hopper, die Gangster oder Figuren wie Tyson und Jim Brown. Es geht niemals um den angepassten, gebildeten Anzug-und-Schlips-Schwarzen. Ist eine Figur wie Barack Obama für Sie nicht interessant?
Nicht im geringsten. Für mich ist er komplett vorhersehbar und langweilig. Alles an ihm ist falsch: sein Charme, sein Lächeln, sein Gang. Es gibt keine einzige authentische Zelle in seinem Körper.

In Black and White von 1999 geht es um die Vermischung von schwarzer Hip-Hop-Kultur und weißer Bürgermentalität – durch die Musik, aber auch wieder durch Sex. Die von Claudia Schiffer gespielte Figur sagt an einer Stelle: „Die Rassenidentität ist die letzte wichtige Schranke, die fällt.“ Jetzt gibt es sogar einen schwarzen Präsidentschaftskandidaten.
Ich glaube nicht, dass Obama schwarz ist. Er ist vor allem ein Anwalt und ein Politiker. Seine Hautfarbe hat keinen Einfluss auf seine Ansichten. Er vertritt dasselbe wie die weißen demokratischen Senatoren.
Die Situation der unabhängigen Filmemacher in den USA ist zurzeit nicht die beste. Können Sie dazu etwas sagen?
Es handelt sich um eine Konspiration der Studios, die das richtige Independentkino ersticken wollen. Sie brauchen es nicht, sie wissen nicht, wie man es macht, also wollen sie es eliminieren. Da sie das nicht vollständig können, versuchen sie, es unter Kontrolle zu halten. Fox Searchlight, Miramax und auch Focus haben überlebt, weil sie eine Art Mini-Major-Studios geworden sind. Sie sind nicht mehr wirklich unabhängig. Sie machen Filme, wie die großen Studios sie früher zu machen pflegten, bevor alle dazu übergingen, nur noch 200-Millionen-Dollar-Witzfilme für Kinder zu produzieren. Das wirkliche unabhängige Kino, das sind Sony Classics, die aber keine Filme finanzieren, sondern nur verleihen, und vielleicht IFC und Magnolia Pictures. Die anderen sind alle weg. Picturehouse sollte starten – es wird geschlossen. Warner Independent kam nie richtig hoch und ist ebenfalls zu. Die vielversprechende Firma ThinkFilm steht vor einer ungewissen Zukunft.

Was ist schiefgelaufen?
Regisseure und Schauspieler sind schwache, gierige Huren. Sie wollen nur das Geld und machen dafür jeden Film, der von ihnen verlangt wird. Wird Martin Scorsese jemals wieder einen Film drehen, der auch nur annähernd so wäre wie das, was er am Anfang seiner Karriere gemacht hat? Oder Brian de Palma? Diese Kerle wollen das Geld.
Und die jüngeren?
Die wollen einfach in die Branche hineinkommen. Wie ein Haufen Prostituierter, die rufen: Hier, hier, bezahl mich, ich bin hier. Es ist wirklich ein erbärmlicher Zustand, und es wird schlimmer werden, nicht besser. Heute gibt es eine ganze Generation, die nicht einmal weiß, dass es eine andere Art von Filmen gibt. Unter einem Klassiker verstehen die Star Wars.
Sie mögen Star Wars nicht?
Den kann ich nicht mal gemeinsam mit meinem Sohn ertragen. Der sagt immer: „Papa, du schaust ja gar nicht richtig hin.“ Und ich frage: „Wie zum Teufel soll ich mir diesen Mist ansehen?“ Mein Sohn sagt dann: „Das ist besser als Fingers.“ Und dann will ich nur noch raus.
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