„Der Wert der Sonnenstrahlen“

Interview mit Regisseur Lajos Koltai zu seinem Film Fateless – Roman eines Schicksallosen

Seit seiner Premiere bei der diesjährigen Berlinale wird Fateless – Roman eines Schicksallosen kontrovers diskutiert. Dies liegt vor allem an seiner – für das behandelte Thema der Zwangsarbeit und Deportation eines 14-jährigen Juden – eher ungewöhnlichen ästhetischen Inszenierung. Im Interview mit critic.de berichtet Regisseur Lajos Koltai, wie es zur Zusammenarbeit mit Imre Kertész kam und erläutert seine Herangehensweise an den Stoff. Er erzählt auch von der Arbeit mit dem jungen Hauptdarsteller Marcell Nagy und davon, ob es Schwierigkeiten mit sich bringt, wenn ein erfahrener und mehrfach ausgezeichneter Kameramann das erste Mal Regie führt.

critic.de: Wie haben Sie Imre Kertész davon überzeugt, dass Sie der Richtige sind, die Verfilmung seines Romans zu realisieren?

Lajos Koltai: Ich habe mich in den Stoff, genauer gesagt in seine Literatur verliebt. Das war die Grundlage für unser erstes Treffen. Er war neugierig, was ich von dem Projekt halte. Ich war wiederum auf ihn, den Menschen, neugierig. Bereits damals hatte er ein Drehbuch dabei und wollte, dass ich ihm umgehend mitteile, was ich davon halte. Ob man daraus überhaupt einen Film machen kann und ob das überhaupt ein Drehbuch sei oder nicht. Nach einer Woche habe ich ihm meine Antwort gegeben. Besonders wichtig war uns, vielleicht sogar das Wichtigste, dass sich dieser Film nur linear erstrecken, dass man ihn nur Schritt für Schritt erzählen kann. Das ist die Essenz der Geschichte. Doch für einen Filmemacher ist das nicht gerade erstrebenswert. Filmemacher wollen meistens große Szenen hinzufügen. Hier konnten wir jedoch nichts dazuschreiben. Die Geschichte ist nur diese Geschichte. Imre hat zwar ohne Frage noch mehr Erlebtes in der Hinterhand, doch nicht ohne Grund hielt er das auch im Roman zurück. Die Geschichte baut nicht auf die großen Szenen, die wir alle aus Holocaust-Filmen kennen. Nein, wir finden einen Rhythmus und schreiten den Weg mit Würde ab. Imre Kertész nennt das ernste Würde, eine wunderschöne Formulierung. Wir tun es Schritt für Schritt. Wir können von dem Weg nicht abgehen, wir können nur zum nächsten Punkt schreiten. Es ist nicht nur die Geschichte einer Demontierung, sondern auch ein Kreuzgang. Darum habe ich die Technik der Auf- und Abblende verwendet, mit der ich gewissermaßen Kapitel setzen kann. Es ist, als würde ein Satz gesprochen und dann kommt ein Punkt. Dann ein weiterer Satz und ein weiterer Punkt. Darum haben wir auch keine Flashbacks verwendet. Sie haben in unserem Film nichts zu suchen.

Fateless ist ihr Debüt als Regisseur. Sie sind eigentlich Kameramann – wie sind Sie an die Arbeit mit dem Drehbuch herangegangen?

Ich hatte das Glück, dass mir Imre das Rohmaterial anvertraute und mir sagte, ich könne damit machen, was ich wolle. Er wüsste genau, dass der Unterschied zwischen Literatur und Film gewaltig ist. Film sei eine eigene Kunstgattung und der Regisseur sei da der Boss. Er wolle eine Vision sehen: Meine Vision von der literarischen Grundlage. Es mache keinen Sinn, den Roman Wort für Wort umzusetzen. Imre hat mich von Anfang an mit einer Großzügigkeit beschenkt, die mir erlaubte, Begriffe wie Hunger, Kälte und das Nicht-mehr-stehen-können filmisch in Statuen zu meißeln.

Haben Sie sich von Anfang an vorgenommen, nur Regie zu führen?

Alle waren sich sicher, dass ich die Kamera führen würde. Wenn der Koltai einen Film macht, dann wird er den auch selbst fotografieren! – Aber der Gedanke ist mir gar nicht gekommen. Es wäre ein Fehler gewesen, beide Funktionen zu übernehmen. Ich hatte so viel zu tun. Ach, wenn es nur die Auswahl des jungen Hauptdarstellers gewesen wäre, was das Schwierigste war. Aber ich musste 140 Rollen besetzen und noch die Statisten und noch alles andere. Meine Aufgabe war doch, mich mit dem Jungen zu beschäftigen. Ich musste ihn an diese seelische Verfassung heranführen, ihn vor gewissen Sachen beschützen, damit er keinen Schaden nimmt. In gewisser Weise eine elterliche Rolle annehmen. Seine Eltern waren zwar immer anwesend, doch beim Drehen konnte nur ich ihm helfen. Mir war also von Anfang an klar, dass ich nicht die Kamera führen würde.

Wie haben Sie ihren Kameramann gefunden?

Ich habe sehr lange nach einem Kameramann gesucht. Zuerst dachte ich, dass ich jemanden aus dem Ausland nehmen sollte. Immerhin hatten wir ausländische Produktionspartner. Aber mir wurde deutlich, dass ich meine Muttersprache brauche. Ich kann gar nicht anders, ich darf gar nicht anders. Ich brauche also Mitarbeiter, die meine Sprache sprechen. Manchmal kommt die Kommunikation an einen Punkt, an dem man nur noch sagt: „Du verstehst?“ und die Antwort darauf ist nur darum „Ich verstehe“, weil wir eine gemeinsame Basis haben, aus der gleichen Ecke kommen, aus dem gleichen Land. Wir haben die gleiche Geschichte, unsere Eltern haben in diesem schrecklichen Jahrhundert Ähnliches erlebt. Wir haben also Gemeinsamkeiten, auch im Denken, so dass wir an einem gewissen Punkt das Wort nicht mehr brauchen und uns mit einem Augenaufschlag verstehen. Ich kannte die Arbeit von Gyula Pados. Er hat nicht viel gemacht, aber er war immer gründlich und er ist wunderbar. In Gyula fand ich den Partner, der mich ergänzt. Er erkannte und akzeptierte vom ersten Drehtag an, dass ich nur durch die Sicht der Kamera denken kann, dass ich gar nicht anders Regie führen kann. Immerhin war die Visualität die Essenz unserer Herangehensweise. Dass wir ein Thema anders als Holocaust-Filme in der Regel beleuchten wollten. Er nahm es als selbstverständlich, dass ich mit der Kamera lebte und erst dann die Arbeit an ihn abgetreten habe. Aber dann ließ ich ihn auch gewähren.

Sie arbeiten in Fateless mit einer ausgefeilten Farbskala. Die Farben verblassen und verstärken sich wieder.

Wir hatten eine Vorstellung, wie der Film aussehen sollte. Wir wollten nie einen Schwarzweißfilm drehen. Es ist eine normale Geschichte, die mit einer Unschuld beginnt, wie jede beliebige Geschichte. Es gibt jemanden, der am Morgen noch nicht weiß, was mit ihm geschehen wird. Mit dieser Unschuld gehen wir in die Handlung, in der auch eine leicht zugängliche Musik spielt. Ennio Morricone hat durch die Musik sehr schnell die Geschichte verstehen können. Es beginnt also mit einer unschuldigen Geschichte, in der die Farben wie in jedem Film sind, ein wenig bunt, aber nicht zu farbig. Sie haben eine gewisse Eleganz. Dann entwickelt es sich nicht nur zu einer Geschichte über den Verlust, sondern der Demontage. Der Mensch verliert alles. Und als sie in die Waggons steigen, bindet sie nichts mehr. Der letzte Weg hat begonnen. Da beginnt dann auch der Entzug der Farbigkeit. Wir kennen den Holocaust aus Dokumentationen, aus den Archiven, und nur darum verbinden wir ihn mit Schwarzweißbildern. Die Überlebenden wissen mehr und sie erinnern sich an eine farblose Welt. Wahrscheinlich haben sie mit ihrer Seele eine farblose Welt wahrgenommen – viel mehr als der Schlamm, die Farben der Baracken und Zelte hatte sie auch nicht umgeben. Wir können uns dieser Sicht nur annähern, wenn wir die Farben abbauen und damit dieser Realität, die in den Köpfen ist, entgegenkommen. Der Holocaust ist auf jeden Fall farblos. Damit man uns die Geschichte glaubt, müssen wir Farbe wegnehmen und dann, auf dem Weg zurück, die Farbe auch wieder etwas zurückgeben, damit wir einen winzigen Hoffnungsschimmer setzen. Doch die Farben können nie wieder so sein, wie sie zu Anfang waren.

Wie haben Sie das erreicht?

Wir haben das mit einer speziellen Technik in England machen lassen. Das gibt es noch nicht häufig, aber es ist bereits machbar. Wir haben den Film noch einmal digital beleuchtet, uns eingemischt. Wir haben ein neues Negativ erstellt und davon die Kopien gezogen.

Nicht nur die Drehorte sind Teil der Handlung, sondern auch die Elemente. Das Licht spiegelt sich im Staub, im Tau, in allem was die Drehorte umgibt.

Ja, das ist die Natur. Ich habe gesagt, diesen Film kann man nur mit den Elementen zusammen machen. Das Wasser, die Luft, das Eis, der Schnee. Man denkt immer, der Mensch lebe in einer sterilen Umgebung, dem ist nicht so. Besonders die Menschen in den Lagern waren der Natur ausgeliefert, sie wurden vollständig Teil der Natur. Die Zelte durfte man nur zum Schlafen betreten; auch wenn es regnete, mussten sie draußen bleiben. Sie verschmolzen mit den Elementen. Die Natur formt den Menschen und er bewahrt z.B. einen Sonnenuntergang. Am Ende erinnert sich der Junge daran, an diese eine Stunde, die schön war. Die Sonne kann keinen Unterschied machen, ob sie für ein Todeslager oder für einen wunderschönen Wald scheint. Nur der Wert der Sonnenstrahlen ist in den Seelen ein anderer. Für den Jungen ist dieser Zeitpunkt am Nachmittag ein Anker. Eine Stunde, in der man nicht arbeitete, sondern auf das Essen hoffte, was das Wichtigste überhaupt war. Ist es nicht schade, dass wir nicht von den Momenten sprechen, die schön waren? Das heißt doch nicht, dass nicht passiert ist, was passiert ist. Denn das alles ist passiert. Trotzdem gab es auch diese Momente.

Es gibt feste Einstellungen: Die Kamera hält auf das Gesicht des Jungen – auch das eine Landschaft – doch im Hintergrund tanzt das Licht. Haben Sie das auch erschaffen?

Das haben wir alles erschaffen, natürlich. Die Kamera hält sich an dem Jungen fest. Das Gesicht ist eine Karte, ein Raum, wir heben es hervor. Unsere Absicht war, es im Vordergrund zu halten. Aber im Hintergrund passiert noch alles andere. Wir haben einen sehr großen Raum und der Junge wird dadurch Teil dieses Raumes. Der Raum nimmt ihn auf und schließt ihn auch aus, manchmal umarmt er ihn. Doch egal wie nahe wir dem Jungen sind, der Raum hält eine Distanz. Wir sehen jedoch das Gesicht und wir sehen die Veränderung auf seinem Gesicht. Die tägliche Demütigung und die tägliche Auslöschung kann man an ihm wie Spuren ablesen. Wir sehen den Weg, den der Junge geht.

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