Das Feiern des Andersseins

Interview mit John Cameron Mitchell zu Shortbus

In John Cameron Mitchells neuem Film gibt es keine Tabus in Sachen Sex. Sie schläft mit ihr, er mit ihm oder er mit ihr. Alle haben Sex oder reden zumindest darüber. Im sogenannten Shortbus, einer ausgefallenen Mischung aus Club und Salon, wo jeder das tut, wonach ihm der Sinn steht, treffen die Protagonisten aufeinander. Wir trafen den Regisseur in Cannes zum Interview.

critic.de: Du hast bereits bei Deinem letzten Besuch in Berlin 2001, als Du Dein Transenrockmusical Hedwig and the Angry Inch vorgestellt hast, darüber gesprochen, einen Kinofilm mit echtem Sex zu drehen. Was hat so lange gedauert?
John Cameron Mitchell: Es war ein sehr langer Prozess und wir hatten einige Schwierigkeiten, vor allem mit der Finanzierung, weil uns in den USA niemand Geld geben wollte wegen der Sexszenen. Die ersten, die schließlich Geld gaben, war der Weltvertrieb Fortissimo aus Amsterdam. Und wir wollten mit keinen Schauspielagenturen zusammenarbeiten, sondern selbst Leute casten. Und wir wollten keine Stars, weil die eh keinen Sex haben und sich auch auf die über zweijährige Vorbereitungszeit mit den Workshops nicht eingelassen hätten. Deshalb habe ich Zeitungen und Magazinen Interviews angeboten, damit sie unsere Website nennen, bei der sich Leute melden können. So haben wir über 500 Demovideos erhalten – meist von Laien, denn uns waren sexuelle Erfahrungen wichtiger als schauspielerische – und jeder hat sich anders beworben: ein paar haben von sich erzählt, manche haben richtige Kurzfilme gedreht und manche haben sich einfach einen runtergeholt. Wir haben dann rund 40 Leute zum Casting eingeladen und mit ihnen improvisiert. Und daraus ist dann im Laufe der Monate das Drehbuch entstanden.

Gibt es in New York tatsächlich Läden wie „Shortbus”?
Es gibt eine ganze Reihe von Salons, die aus dem Boden schossen, als der damalige Bürgermeister Rudolph Giuliani das Nachtleben in New York durch Tanzverbot und Sexverbot trockenlegte. Deswegen haben Leute mit großen Wohnungen begonnen, Partys bei sich zuhause zu veranstalten, vor allem in Brooklyn. Der in Shortbus ist vor allem von einem Salon inspiriert, den ein Freund von mir veranstaltete, der CineSalon, in dem er 16mm Filme zeigte. Er spielt in meinem Film den Maître d’ des Sexraums.

Sind sie mit den Speak Easys der Prohibition vergleichbar, diesen Hinterzimmern, in denen Alkohol ausgeschenkt wurde?
Diese Schuppen waren ja illegal und es wurde Eintritt verlangt, sie waren eher wie Clubs. Die heutigen Salons verlangen keinen Eintritt, es geht eher darum, Leute zu sich einzuladen, Musik zu machen, Filme zu zeigen – und Sex zu haben. Wenn man das nichtkommerziell macht, verändert das natürlich das Umfeld und das Verhalten der Gäste.

In einer Szene haben drei Jungs zusammen Sex und einer bekommt dabei buchstäblich die US-Nationalhymne in den Hintern geblasen. Eine Provokation?
Uns ging es darum, bestimmten amerikanischen Werten wieder Geltung zu verschaffen. Der Film beginnt schließlich mit der Freiheitsstatue. Für mich sind das die traditionellen amerikanischen Werte. Die USA waren einmal das Land, in das man ging, wenn man woanders nicht erwünscht war.

Und jetzt ist nur noch New York ein solcher Ort?
Nein, zum Teil gilt es noch für die gesamten USA. Für viele ist Amerika schon noch eine Art Nirvana, für den Schwulen aus dem Iran, der dort verfolgt wird oder für den Arbeitslosen in Mexiko. Aber in Bush-Zeiten, in denen Angst die Leitwährung ist, vergessen die Leute, was die echten amerikanischen Traditionen und Werte sind. Die Jugend in den USA fühlt sich machtlos im Angesicht der politischen Zustände und verfällt in ein alles betäubendes Konsumverhalten. Aber wir müssen weg von diesem Hedonismus und wieder ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. In New York spürt man das immer wieder, vor allem nach dem 11. September.

Hat sich die Botschaft des Films verändert durch die Ereignisse seit 2001?
Ich finde nicht, dass es die eine Botschaft gibt. Es geht eher um das Erforschen der verschiedenen Figuren, die alle um die Frage kreisen, ob sie allein sein sollten oder nicht. Diese Frage stellen wir uns alle, und zwar persönlich, sexuell, politisch und sozial. Und währenddessen denken wir ein bisschen über Dinge nach wie Amerika, Sex, Gender… Zum Beispiel die Frau, die keinen Orgasmus haben kann. Das hat natürlich mit ihrer Rolle als Frau in dieser Welt zu tun. Aber sie möchte sich nicht als Frau definieren, der ein Mann einen Orgasmus verschafft. Und ich wollte sehr viele verschiedene Spielarten zeigen, um klar zu machen, dass wir alle im gleichen verfickten Boot sitzen. Aber Kern ist die Frage nach dem Alleinsein. Bush hat bis zu seinem 35. Geburtstag noch nie das Land verlassen. Er ist ganz gern allein. Amerika ist ganz gern allein. Wir denken, wir müssen keine Verträge unterzeichnen. Für mich sind all diese Dinge verbunden. In diesem Sinne ist es auch ein sehr politischer und patriotischer Film.

Warum war es Dir wichtig, realen Sex in Deinem Film zu zeigen?
Nimm mal an, in einem Film gibt es eine Szene, in der Basketball gespielt wird und es wird nur gezeigt, wie jemand den Ball wirft und dann gibt es einen Schnitt und man sieht wie der Ball im Korb landet. Als ob Zuschauer nichts von Filmschnitt verstehen würden! Es ist doch viel glaubwürdiger, wenn man sieht, wie der Ball die Hand verlässt, fliegt und im Korb landet, alles ungeschnitten. In unserem Fall sieht man auch die Hand, nur unsere Bälle und Körbe sind andere. Aber man hat so nicht das Gefühl, verarscht worden zu sein. Und durch dieses Vertrauen bringt man den Zuschauer den Figuren näher.

Befürchtest Du, dass Dein Film als pornographisch angesehen werden könnte?
Ich halte meinen Film einfach nicht für pornographisch, weil die erste Priorität von Porno doch ist, geil zu machen, die Zuschauer genauso wie die Macher. Aber es war nicht unser vorrangiges Ziel, jemanden zu erregen. Mich haben viel mehr die Aspekte des Sex interessiert, die nicht erotisch sind, sondern eher die emotionalen, humorvollen und metaphorischen. Andere haben das mit der Erotik viel besser drauf als ich, das ist ja etwas sehr traditionelles. Und ich habe versucht, mich mit Sex auf eine nicht negative Art auseinanderzusetzen, weil so viele Filmemacher zwar momentan Sex einsetzen, aber es endet immer mit einer Kastration oder in entsetzlicher Langeweile. Ich finde diese Filme nicht alle schlecht, die von Catherine Breillat gefallen mir sogar ausgesprochen gut. Aber sie sind sehr negativ. Sie scheinen sich alle an einem kollektiven Schuldgefühl gegenüber Sex abzuarbeiten.

Wie hast Du die anderen Darsteller dazu gebracht, sich in diesen sehr expliziten Szenen wohl zu fühlen?
Da war jeder anders. Manche haben schon in den Proben gleich losgelegt, andere wollten gar nichts machen. Wobei wir in den Workshops nur sehr wenig Sexproben hatten, weil wir uns darauf verlassen haben, dass das vor der Kamera gut gehen würde. Und das hat es ja auch. Einige haben sich Sorgen gemacht, ob der Sex sicher ist und wir haben HIV-Tests gemacht. Es gab bereits ein Pärchen, für die war das kein Problem. Die einen wurden am Drehtag nervös, andere hatten vorher Bammel und waren vor der Kamera total locker, ganz verschieden. Bei den Komparsen war es meistens OK, weil wir oft von relativ weit weg gefilmt haben. Aber auch die Verlegenheit ist nützlich. Ich habe niemanden zu etwas gezwungen, habe aber allen gesagt, dass sie an ihre Grenzen gehen und neues ausprobieren sollen. Und ich kann guten Gewissens behaupten, dass alle Orgasmen im Film echt sind.

Wie filmt man denn eine Orgie? Choreographiert man das vorher ganz genau oder lässt man es einfach passieren?
Du kannst eine Orgie nicht choreographieren, glaub mir! Für mich ist das aber auch keine Orgie, sondern nur ein Haufen Paare und Dreier, da gab es kein Kreuz-und-quer-Ficken. Niemand sprang plötzlich in ein anderes Lager, vor allem, weil mir die Sicherheit wichtig war. Aber ich habe sie an bestimmte Stellen gesetzt und gesagt, in diesem bestimmten Bereich könnt ihr treiben was ihr wollt. Ich habe allen sehr viel Zeit gelassen.

Eine andere wunderschöne Szene ist die Party am Ende, die ein bisschen an die Undergroundfilme von Jack Smith erinnert. War er ein Einfluss?
Auf eine Art. Ich kenne nur Flaming Creatures und er beeinflusste sehr viele Leute, die nach ihm kamen, wie Andy Warhol und John Waters. Er war so etwas wie der Prototyp der Radical Fairy. Das waren queere Hippies, die sich von den angepassten Schwulen abgegrenzt haben. Sie haben sich im Laufe der Jahre sehr differenziert, aber die meisten leben auf dem Land und pflegen einen ökologischen Lebensstil. Und bei ihren Zusammentreffen in der wilden Natur praktizieren sie eine sehr freie Sexualität. Einige von ihnen hatte ich auch als Komparsen. Ein paar andere waren Freunde und ein paar haben wir über Anzeigen und im Internet gefunden. Mich haben aber andere Filme viel mehr beeinflusst, was die Darstellung von Sexualität angeht. Vor allem Frank Ripplohs Taxi zum Klo von 1980 über einen schwulen westberliner Lehrer, der einen gewissen Sinn für Humor und Melancholie hatte. Neuere Filme mit sexuellen Themen waren dagegen kaum relevant, weil sie so humorlos sind. Trotzdem können sie großartig sein, wie Catherine Breillats Filme, aber sie entsprechen einfach nicht meinem Stil. Ich könnte nie solche Filme machen.

Sex wird in diesen Filmen immer irgendwie bestraft …
Genau. Ich frage mich immer, woher zum Teufel kommt dieses puritanische Echo? Und sie nehmen stets ein böses Ende. Ein wichtiger Film für mich war noch Jean Genets Un chant d’amour, der in den 50er Jahren einer der ersten Filme war, der schwule Sexualität roh und explizit zeigte.

Mit weiblichen Brüsten hat das Mainstreamkino kaum Probleme, aber Penisse werden, wenn überhaupt, nur in Arthousefilmen gezeigt. Woran liegt das?
Auf dem Regiestuhl sitzen ja mehrheitlich Männer, zumindest in den USA, und ich könnte mir vorstellen, dass es eine gewisse Homopanik gibt. ‚Wenn ich seinen Penis zeige, heißt das dann, dass ich auf Schwänze stehe? Zeig ich also lieber ihre Titten.’ Wir zeigen dagegen alle möglichen Geschlechtsteile und jede sexuelle Spielart. Das war mir auch wichtig. Klar könnten wir mehr Geld machen, wenn wir nur Heterosex zeigen würden, aber ich will heterosexuelle Zuschauer genauso herausfordern wie schwule, lesbische oder bisexuelle Zuschauer.

Was bedeutet eigentlich „Shortbus“?
Das bezieht sich auf die traditionellen gelben US-Schulbusse, mit denen die „normalen“ Kinder zur Schule fahren. Kinder mit besonderen „Bedürfnissen“, also die behinderten, die hochbegabten, die psychisch Kranken, werden in einem kürzeren gelben Bus transportiert, dem Shortbus, weil es nicht so viele von ihnen gibt. Und ich habe wie viele meiner Freunde das Gefühl, dass uns mehr mit der kürzeren Variante verbindet. Wir feiern damit das Anderssein.

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