„Bei Tabus spielt Logik keine Rolle“
Interview mit Oliver Schmitz über Geliebtes Leben

Seit Jahren gehört Südafrika zu den Ländern mit der höchsten Zahl an HIV-Infizierten, und trotz weitgehender staatlicher Aufklärungskampagnen wird das Thema zum Teil von der Bevölkerung tabuisiert. Dem Schicksal der tausenden AIDS-Waisen widmet sich Oliver Schmitz’ neuer Film Geliebtes Leben (Life, Above all, 2010). Darin kämpft ein 12-jähriges Mädchen in einem südafrikanischen Township für den Zusammenhalt ihrer Familie und gegen die sie umgebende Mauer aus Schweigen, Aberglauben und Angst vor der Krankheit. critic.de sprach mit Regisseur Oliver Schmitz.
critic.de: Ihr filmisches Werk nimmt seinen Anfang mit Mapantsula (1988) in Südafrika. Sie sind Südafrikaner, arbeiten seit fast zehn Jahren auch in Deutschland. Welche Unterschiede bestehen zum Arbeiten in Südafrika?

Schmitz: Geliebtes Leben ist mein dritter Kinofilm, den ich in Südafrika gemacht habe. Das sind alles sehr persönliche Filme, die für mich wichtig waren und in denen es um Menschen, Menschlichkeit und vielleicht auch soziale Entwicklungen in der Gesellschaft geht. In Deutschland habe ich zum ersten Mal eine Komödie gemacht. Aus einem Versuch entwickelte sich so eine ganz andere Karriere als Komödienregisseur, was mir wahnsinnig viel Spaß macht.
Besteht zu den südafrikanischen Filmen also eine andere emotionale Bindung?
Meine persönlichen Erfahrungen waren für mich sehr wichtig, um diesen Film zu machen. Mir geht es um die ganze Wandlung der Gesellschaft, das Trauma rund um das Thema AIDS. Als es richtig schlimm wurde Anfang der 1990er Jahre, konnten viele einfach nicht glauben, was passiert, oder wollten nicht darüber reden. Sehr gute Freunde von mir sind gestorben, ohne dass sie begreifen konnten, was geschah. Auch habe ich eine Adoptivtochter aus Südafrika, und wenn ich mir vorstelle, welches Leben sie gehabt hätte – nach Recherchen gibt es inzwischen bis zu einer Million Waisenkinder, deren Eltern an AIDS-Folgen gestorben sind. Das schwingt natürlich alles in diesem Film mit. Meine Arbeit hier in Deutschland genieße ich natürlich und fühle mich diesbezüglich privilegiert, aber eine Arbeit wie Geliebtes Leben hat eine andere emotionale Tiefe, keine Frage.
Klingt fast wie ein sozialer Auftrag?

Ja, aber das wird sehr schnell prätentiös. Da bin ich sehr vorsichtig (lacht).
Geliebtes Leben ist die Adaption des Romans „Chanda’s Secrets“ von Allan Stratton. Produzent Oliver Stoltz hat zur Suche nach einem Regisseur gesagt, er wolle jemanden, der einen persönlichen Bezug zum Stoff entwickeln kann. Wie macht man das?
Bei all meinen Projekten in Südafrika war es für mich wichtig, die Geschichten nicht so realistisch wie möglich, sondern in ihrer Emotionalität, in ihrer Temperatur so real wie möglich aufzufangen, als Erlebnis – sozusagen. Ich habe mich bei meinen Filmen immer dafür engagiert, sie nicht mit ausländischen Stars zu besetzen. Abseits der kommerziellen Aspekte bereichert das den Film und wertet ihn für mich auf, lässt ihn stimmiger werden. So haben wir die Erwachsenen in den Hauptrollen mit südafrikanischen Profis besetzt, aber die Nachbarn drumherum sind Laien, und die Kinder standen erstmalig vor einer Kamera. Gerade bei den Kindern haben wir junge Darsteller gefunden, die so viel von sich selbst gezeigt und eingebracht haben, dass ich richtig stolz drauf bin.
Wie schafft man sich bei der Arbeit an einer Romanadaption den inszenatorischen Raum, wenn man auch eigene Erfahrungen mit einbringen will?

Mir scheint es wichtig, grundsätzliche kreative Entscheidungen am Anfang zu treffen. Dass die Schauspieler aus Südafrika kommen, dass die Kinder in der Sprache sprechen, in der sie sich wohl fühlen, dass man also untertiteln oder synchronisieren muss für andere Länder und zum Teil auch für Südafrika, denn die im Film gesprochene Sprache ...
... Sepedi bzw. Nord-Sotho...
... ist keine Hauptsprache im Land. Auch dass die Geschichte an einem konkreten Ort stattfinden soll und nicht – wie im Roman – irgendwo im südlichen Afrika. Das alles gibt schon die Richtung der Umsetzung vor. Eine wichtige Kernfrage war auch das Alter der Hauptfigur. Im Buch ist Chanda 16 Jahre alt. In der Realität sind 16-Jährige in Südafrika bereits so aufgeklärt, dass sie über die Welt Bescheid wissen. Das von anderen verheimlichte AIDS-Thema ist keine Entdeckung mehr.
Im Film ist Chanda ein zwölfjähriges Mädchen.

Und Allan Stratton, der Romanautor, war anfangs ein bisschen irritiert, hat aber im Nachhinein verstanden, warum ich diese Entscheidung für mich treffen musste. Chanda ist ein junges Mädchen, das erwachsen wird, das gerade in die Situation kommt, die Welt zum ersten Mal zu verstehen. Sie ist aber auch noch naiv genug, um Fragen zu stellen, ohne vom Umfeld, etwa von den Nachbarn, eingeschüchtert zu sein. Sie spricht einfach aus, was andere denken, ohne deren Hemmungen, deren Ängste oder deren Verhalten zu teilen. Diese Naivität brauchte etwas Kindliches.
Also ist die Tabuisierung von AIDS das Thema?
Dass keiner über das Thema spricht, das ist ein Kern des Films. Tabuisierungen gibt es in verschiedenen Formen in Südafrika und nicht nur dort. In einem Land, in dem die HIV-Infektionsrate so hoch ist, ist die Angst vor der Krankheit enorm. Und man sieht die Kinder, die daran leiden. Wir haben Kinder besucht, zum Beispiel ein 14-jähriges Mädchen, das auf zwei jüngere Geschwister aufpassen musste. Und die tat das schon drei, vier Jahre. Ihre Eltern starben beide, als sie elf Jahre alt war. Sie hatte eine Schwester, die einmal im Monat vorbeikam mit ein bisschen was zu essen – richtig wenig. Eine Nachbarin hat sich zwischendurch um die Kinder gekümmert, aber das war’s, die waren auf sich selbst angewiesen. Und das ist kein Einzelfall. Die landesweite Statistik spricht von 800.000 bis einer Million AIDS-Waisen, die mehr oder weniger auf sich selbst angewiesen sind, ohne Unterstützung, ohne wesentliche Hilfe einer Gemeinschaft. Das ist extrem und zeigt die Wirkungen des Tabus.
Wie erklären Sie sich dieses Tabu?

Da spielt Logik keine Rolle, und man kann es auch nicht auf alle Menschen in Südafrika verallgemeinern. Denn es gab viel Aufklärung, und staatlicherseits wurde viel Geld gerade dafür ausgegeben, um an den Schulen AIDS zu thematisieren. Andererseits gab es auch erschreckend viel irreführende Information. Die Regierung Mbeki ...
... Thabo Mbeki war Staatspräsident von 1999 bis 2008 ...
Er selbst hat behauptet, dass AIDS und HIV nichts miteinander zu tun hätten. Er behauptete auch, dass die Medikamente giftig seien, und seine Regierung verhinderte regelrecht die Medikamentenversorgung. Das gab natürlich eine enorme Gegenbewegung. Zwar kann man von einem generellen Tabu nicht sprechen, dennoch gibt es auf dem Land durchaus Gemeinden, in denen es in dieser strikten Form besteht. So kann der gleiche Mensch in der Öffentlichkeit ganz rational darüber sprechen und dann privat eine völlig andere Position dazu haben. Wichtig war mir, die Sicht auf die Kinder zu lenken und zu zeigen, welche Auswirkungen das auf die Kinder hat.
Ist Ihre Sicht eine Sicht von außen?

Es ist ein wenig paradox. Einerseits komme ich von außen, andererseits aber auch nicht. Ich bin Südafrikaner, ich bin mit der Apartheid aufgewachsen und mit den Änderungen. Wir haben gegen die Apartheid gekämpft und die ganze Wendezeit durchgemacht. Und trotzdem bleibt man in einer von langer Spaltung gezeichneten Gesellschaft ein Außenseiter, da mache ich mir nichts vor. Als Filmemacher ist es daher für mich wichtig, so korrekt wie möglich zu recherchieren und genau zu erzählen. Auch um mich der Kritik, ein Außenstehender zu sein, stellen zu können.
In der Gemeinde, in der wir gedreht haben, kannten viele Leute meine Arbeit. Mapantsula war ein bekannter Anti-Apartheidfilm. Das verschafft einen gewissen Respekt und ein gewisses Vertrauen, ohne das die Arbeit undenkbar wäre. Ich will auch nicht behaupten, ich kann das besser als andere. Es gibt in Südafrika eine neue Filmemachergeneration, die direkt aus dieser Kultur kommt und vielleicht einen anderen Blick darauf hat als ich. Aber es ist manchmal auch nicht schlecht, eine Perspektive von außen zu haben.
Wie setzt man das konkret um?
Letztendlich geht es nicht darum, wie halte ich realistisch eine Kamera auf die Welt, sondern, wie komme ich der Subjektivität der Figur nahe. Das ist keine leichte Aufgabe, denn das junge Mädchen steht ja die ganze Geschichte lang im Fokus. Das als Entwicklungsgeschichte in einer Dramaturgie aufgehen zu lassen war schon anspruchsvoll. Die Kamera begleitet die Hauptfigur immer auf so eine Art, dass sie sich eingefangen fühlt. Das Haus wirkt fast wie ein Gefängnis, weshalb Chanda oft eingerahmt ist in Türen oder Fenstern. Man soll das Gefühl bekommen, es gibt die Innenwelten dieser Familie, und es gibt die Straße draußen. Es galt, diese Welt mit all dem Bedrückenden, diesem Gefangenen zu schaffen. Wir haben fast ausschließlich eine Handkamera benutzt, auch, um immer an den Kindern und der Hauptfigur dranbleiben zu können, ohne dass es für die Kinder zu technisch wird, sie also die Möglichkeit haben, sich im Spiel zu entwickeln. Das hat Bernhard Jasper richtig toll gemacht, er hat ein richtiges Gefühl für die Kinder durch seine Kamera bekommen.
Wurde das Filmthema von den Darstellern auch außerhalb der Arbeit thematisiert und hatte das Einfluss auf die Arbeit?
Einen direkten Einfluss gab es nicht. Es gab Gespräche mit den Leuten, die mitgemacht haben. Die meisten lebten im Umfeld einer Klinik, die in der Region sehr gute Arbeit bei der Aufklärung, Bekämpfung und Behandlung von AIDS macht. Mit dieser Klinik haben wir sehr eng zusammengearbeitet. Aber – gerade bei den Massenszenen auf der Straße – waren die Leute sehr bewegt, sie haben mitgemacht, haben beobachtet und darüber nachgedacht und waren mitgenommen von dem, was wir da gemacht haben. Streitereien oder Unstimmigkeiten gab es nicht. Das würde auch nicht in die Kultur passen, und man würde so etwas auch nie offen austragen, da es einen gewissen Höflichkeitsgrad gibt. Andererseits funktionierte die Geschichte für die Leute, denn sie wussten, dass – wenn auch nicht in ihrem direkten Umfeld, aber unter den gegebenen Umständen – sie sich genau so ereignen könnte.
Auffällig zurückhaltend ist der Einsatz von Musik. Worauf kam es Ihnen dabei an?
Ich arbeite mit Ali Askin schon sehr lange. Er hat auch die Musik zu Oliver Stoltz’ Lost Children gemacht, und ich fand seinen Score wunderbar für diesen Film. Für Geliebtes Leben war wichtig, dass die Musik den Film nicht emotional kommentiert und daher ganz gezielt an wichtigen Stellen eingesetzt wird, dort, wo sich die Welt der Figur ändert oder wo sich in der Figur etwas tut. Es ist viel einfacher flächig, durchgehend Musik zu machen, als sich auf bestimme Stellen zu reduzieren. Andererseits darf die Musikebene nicht gegen den Film arbeiten, sondern sollte den kulturellen Kontext berücksichtigen. Der Film muss deswegen kein afrikanisches oder südafrikanisches Musikkolorit haben, aber es ist immer eine Gratwanderung, einerseits die Emotionalität zu unterstreichen und andererseits nicht gegen die Kultur und die Figuren zu arbeiten. Das erforderte viel Sensibilität und ich finde es toll, was er gemacht hat.
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